Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.hält ihnen Borlesungen über ihr Thun und stellt sich ihnen als ein Muster¬ hält ihnen Borlesungen über ihr Thun und stellt sich ihnen als ein Muster¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0283" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/192584"/> <p xml:id="ID_1086" prev="#ID_1085" next="#ID_1087"> hält ihnen Borlesungen über ihr Thun und stellt sich ihnen als ein Muster¬<lb/> bild von Tugend und Humanität vor. Welchem Deutschen sind nicht die<lb/> Moralpredigten John Bull's aus dem letzten Kriege gegenwärtig? Dieser<lb/> Vertrauensdusel über seine Moralität und die Gesundheit seiner gesellschaft¬<lb/> lichen Institutionen gleicht dem Novembernebel, der, wenn er sich über Lon¬<lb/> don lagert, alles in tiefe Finsterniß hüllt, zuweilen aber plötzlich von einem<lb/> Windstoß zerrissen wird und dem umnachteten Auge einen Blick in die Ferne<lb/> und die Tiefe gewährt. Nicht selten geschieht, daß so ein unerwarteter Wind¬<lb/> stoß den züchtigen Schleier und den Mantel der Liebe lüftet, mit dem die<lb/> heuchlerische, aristokratische Gesellschaft Englands ihre ekelhaften Gebrechen<lb/> und ihre Laster deckt und diese der Welt in einem so scheußlichen Lichte, einem<lb/> so verrotteten Zustande zeigt, daß John Bull vor Scham seine Augen schließt,<lb/> oder in einem Wuthausbruch das Individuum trifft und vernichtet, das ihn<lb/> aus seinem Traum aufrüttelt. Ein solcher Windstoß ist der vor Kurzem<lb/> beendigte Proceß gegen die jugendlichen Gentlemen in Frauenkleidern Bulton<lb/> und Park, ein solcher Windstoß, der die Gesellschaft bis in die innersten Tie¬<lb/> fen aufregte, war der Proceß gegen die Engelmacherin Waters. Die Ent¬<lb/> hüllungen, welche dieser Proceß herbeiführte, legten eine eiternde Wunde der<lb/> englischen Gesellschaft, nämlich das Baby-Farming und den Kindermord, in<lb/> allen ihren Schrecken bloß. Das Baby-Farming, oder vielmehr das gewerbs¬<lb/> mäßige Jn-Wohnung- und Pflegnehmen von mehreren Säuglingen, durch<lb/> eine Person, ist das Resultat, nicht gerade der modernen Civilisation, sondern<lb/> einer gewissen Art von modernem Barbarismus. Unkeuschheit, wenn von unehe¬<lb/> licher Geburt gefolgt, nimmt in England seit den letzten Jahrzehnten zwei<lb/> verschiedene Formen an. Auf dem Lande hat sich die pi-^olib^dio matrimonii<lb/> zu dem Rang einer anerkannten Institution aufgeschwungen. Zwei junge<lb/> Leute in einem Dorfe thun sich zusammen, wohnen mit einander so lange bis<lb/> die Bevölkerung Aussicht auf Vermehrung hat, und dann heirathen sie sich.<lb/> Der Fehltritt ist ausgeglichen und die fehlende Braut wird ein ehrsames Ehe¬<lb/> weib. Wenig oder gar keine Schande heftet sich — nach dem Urtheil der<lb/> Menge — an dies freie und leichte System. In den Städten aber, sieht es<lb/> anders aus. Fabrikmädchen. Dienstboten, die Töchter kleiner Handwerker<lb/> unterliegen diesen kleinen Zufällen, ohne daß ein Theil an Heirath denkt.<lb/> Es, liegt im Interesse von Bater und Mutter, das ganze Vorkommnis) zu<lb/> vertuschen. Daher die Institution des Baby-Farming. Diese Institution,<lb/> die sich auch drüben im großen Vaterlande, und vorzüglich in der neuen<lb/> Kaiserstadt eingewurzelt hat, präsentirt sich unter manchen scheinbar humanen<lb/> Außenseiten, Zuerst einmal das arme Opfer der Indiscretion, die junge<lb/> Mutter. Ist nicht besser, ihr zu einem neuen Anlauf im Leben zu verhelfen?<lb/> Wenn sie nicht der Schande ihres außer der Ehe geborenen Kindes entledigt</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0283]
hält ihnen Borlesungen über ihr Thun und stellt sich ihnen als ein Muster¬
bild von Tugend und Humanität vor. Welchem Deutschen sind nicht die
Moralpredigten John Bull's aus dem letzten Kriege gegenwärtig? Dieser
Vertrauensdusel über seine Moralität und die Gesundheit seiner gesellschaft¬
lichen Institutionen gleicht dem Novembernebel, der, wenn er sich über Lon¬
don lagert, alles in tiefe Finsterniß hüllt, zuweilen aber plötzlich von einem
Windstoß zerrissen wird und dem umnachteten Auge einen Blick in die Ferne
und die Tiefe gewährt. Nicht selten geschieht, daß so ein unerwarteter Wind¬
stoß den züchtigen Schleier und den Mantel der Liebe lüftet, mit dem die
heuchlerische, aristokratische Gesellschaft Englands ihre ekelhaften Gebrechen
und ihre Laster deckt und diese der Welt in einem so scheußlichen Lichte, einem
so verrotteten Zustande zeigt, daß John Bull vor Scham seine Augen schließt,
oder in einem Wuthausbruch das Individuum trifft und vernichtet, das ihn
aus seinem Traum aufrüttelt. Ein solcher Windstoß ist der vor Kurzem
beendigte Proceß gegen die jugendlichen Gentlemen in Frauenkleidern Bulton
und Park, ein solcher Windstoß, der die Gesellschaft bis in die innersten Tie¬
fen aufregte, war der Proceß gegen die Engelmacherin Waters. Die Ent¬
hüllungen, welche dieser Proceß herbeiführte, legten eine eiternde Wunde der
englischen Gesellschaft, nämlich das Baby-Farming und den Kindermord, in
allen ihren Schrecken bloß. Das Baby-Farming, oder vielmehr das gewerbs¬
mäßige Jn-Wohnung- und Pflegnehmen von mehreren Säuglingen, durch
eine Person, ist das Resultat, nicht gerade der modernen Civilisation, sondern
einer gewissen Art von modernem Barbarismus. Unkeuschheit, wenn von unehe¬
licher Geburt gefolgt, nimmt in England seit den letzten Jahrzehnten zwei
verschiedene Formen an. Auf dem Lande hat sich die pi-^olib^dio matrimonii
zu dem Rang einer anerkannten Institution aufgeschwungen. Zwei junge
Leute in einem Dorfe thun sich zusammen, wohnen mit einander so lange bis
die Bevölkerung Aussicht auf Vermehrung hat, und dann heirathen sie sich.
Der Fehltritt ist ausgeglichen und die fehlende Braut wird ein ehrsames Ehe¬
weib. Wenig oder gar keine Schande heftet sich — nach dem Urtheil der
Menge — an dies freie und leichte System. In den Städten aber, sieht es
anders aus. Fabrikmädchen. Dienstboten, die Töchter kleiner Handwerker
unterliegen diesen kleinen Zufällen, ohne daß ein Theil an Heirath denkt.
Es, liegt im Interesse von Bater und Mutter, das ganze Vorkommnis) zu
vertuschen. Daher die Institution des Baby-Farming. Diese Institution,
die sich auch drüben im großen Vaterlande, und vorzüglich in der neuen
Kaiserstadt eingewurzelt hat, präsentirt sich unter manchen scheinbar humanen
Außenseiten, Zuerst einmal das arme Opfer der Indiscretion, die junge
Mutter. Ist nicht besser, ihr zu einem neuen Anlauf im Leben zu verhelfen?
Wenn sie nicht der Schande ihres außer der Ehe geborenen Kindes entledigt
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