Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.Wer an dies großartig angelegte Werk herantritt, fühlt sich zunächst Wer an dies großartig angelegte Werk herantritt, fühlt sich zunächst <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0194" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/192495"/> <p xml:id="ID_731" next="#ID_732"> Wer an dies großartig angelegte Werk herantritt, fühlt sich zunächst<lb/> dadurch freundlich berührt, daß eine breit ausgeführte Schilderung der Zu¬<lb/> stände, auf Grund derer die spätere Geschichte sich aufbaut, vorangeschickt ist.<lb/> Die materiellen Verhältnisse, Handel und Wandel, Landwirthschaft und In¬<lb/> dustrie, die geistigen Strömungen in Kirche und Staat, in Wissenschaft und<lb/> Literatur erfahren eine Skizze, welche die charakteristischen Züge des Zeitalters<lb/> in scharfen Umrissen heraustreten läßt. Der gewaltige Gegensatz der Inter¬<lb/> essen und Tendenzen von Frankreich einerseits und England-Holland andrer¬<lb/> seits ist klar dargelegt. Die Nothwendigkeit des Zusammenstoßes ist das<lb/> Ergebniß. Und die spanische Erbschaftscontroverse ist nicht sowohl Grund<lb/> und Ursache, als Anlaß und Vorwand dieses gewaltigen Krieges. Daß<lb/> eigentlich England und Holland, damals in engster politischer Verbindung<lb/> unter Wilhelm III., die Gegner Frankreichs gewesen, daß sie den Erbfolge¬<lb/> krieg eigentlich aufgenommen haben, mehr noch als das in seinen dynastischen<lb/> Wünschen durch Ludwig XIV. gestörte und verletzte Haus Habslmrg — dies<lb/> als das Motiv des Krieges wird mit überzeugenden Beweisen dargethan.<lb/> Indem Noorden bis in's Eiyzelnste hinein die diplomatischen Actionen vor<lb/> dem Kriege und in den ersten Kriegsjahren auseinanderlegt, weiß er durch<lb/> das sehr energische Festhalten der leitenden Gesichtspunkte seine Leser stets<lb/> in Spannung zu halten und auch für die diplomatischen Details zu inter-<lb/> essiren: die wirksam gewordenen Persönlichkeiten werden alle so gezeichnet, daß<lb/> eine ganze Gallerie historischer Charakterköpfe gewonnen wird, in denen die<lb/> biographische Kunst unseres Geschichtsschreibers sich hübsch zu entfalten Ge¬<lb/> legenheit hat. Königin Anna, Lord und Lady Marlborough, Godolphin,<lb/> besonders aber der mit großer Vorliebe behandelte Bolingbroke, Heinsius in<lb/> den Niederlanden, Prinz Eugen unter den Oestreichern — wer wird nicht<lb/> mit großem geistigem Genuß in der Anschauung dieser Figuren verweilen?<lb/> Die Verflechtung der persönlichen Tendenzen und Leidenschaften mit den sach¬<lb/> lichen Interessen der verschiedenen Staaten ist mit einer meisterhaften Deut¬<lb/> lichkeit herausgearbeitet; und gerade wenn wir solche Abschnitte dieses Buches<lb/> mit den correspondirenden Theilen in den englischen formell oft so blenden¬<lb/> den Geschichtsbüchern zusammenhalten, gerade dann zeigen sich die Vorzüge<lb/> dieses deutschen an Ranke's Muster gebildeten Historikers in dem glänzendsten<lb/> Lichte. Von aller Effecthascherei, allen den künstlich aufgesetzten Lichtern,<lb/> allen den außerhalb der Sache liegenden pikanten Seitenbemerkungen, von<lb/> allem diesem Aufputz, der uns auch bei den guten historischen Werken eng¬<lb/> lischer Literatur den Genuß stört -— von dergleichen hält Noorden sich rein.<lb/> Wir müssen sagen, mit dieser Leistung hat sich der Verfasser in die erste Reihe<lb/> unserer heutigen Geschichtschreiber hinaufgeschwungen; — möge er sich dort</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0194]
Wer an dies großartig angelegte Werk herantritt, fühlt sich zunächst
dadurch freundlich berührt, daß eine breit ausgeführte Schilderung der Zu¬
stände, auf Grund derer die spätere Geschichte sich aufbaut, vorangeschickt ist.
Die materiellen Verhältnisse, Handel und Wandel, Landwirthschaft und In¬
dustrie, die geistigen Strömungen in Kirche und Staat, in Wissenschaft und
Literatur erfahren eine Skizze, welche die charakteristischen Züge des Zeitalters
in scharfen Umrissen heraustreten läßt. Der gewaltige Gegensatz der Inter¬
essen und Tendenzen von Frankreich einerseits und England-Holland andrer¬
seits ist klar dargelegt. Die Nothwendigkeit des Zusammenstoßes ist das
Ergebniß. Und die spanische Erbschaftscontroverse ist nicht sowohl Grund
und Ursache, als Anlaß und Vorwand dieses gewaltigen Krieges. Daß
eigentlich England und Holland, damals in engster politischer Verbindung
unter Wilhelm III., die Gegner Frankreichs gewesen, daß sie den Erbfolge¬
krieg eigentlich aufgenommen haben, mehr noch als das in seinen dynastischen
Wünschen durch Ludwig XIV. gestörte und verletzte Haus Habslmrg — dies
als das Motiv des Krieges wird mit überzeugenden Beweisen dargethan.
Indem Noorden bis in's Eiyzelnste hinein die diplomatischen Actionen vor
dem Kriege und in den ersten Kriegsjahren auseinanderlegt, weiß er durch
das sehr energische Festhalten der leitenden Gesichtspunkte seine Leser stets
in Spannung zu halten und auch für die diplomatischen Details zu inter-
essiren: die wirksam gewordenen Persönlichkeiten werden alle so gezeichnet, daß
eine ganze Gallerie historischer Charakterköpfe gewonnen wird, in denen die
biographische Kunst unseres Geschichtsschreibers sich hübsch zu entfalten Ge¬
legenheit hat. Königin Anna, Lord und Lady Marlborough, Godolphin,
besonders aber der mit großer Vorliebe behandelte Bolingbroke, Heinsius in
den Niederlanden, Prinz Eugen unter den Oestreichern — wer wird nicht
mit großem geistigem Genuß in der Anschauung dieser Figuren verweilen?
Die Verflechtung der persönlichen Tendenzen und Leidenschaften mit den sach¬
lichen Interessen der verschiedenen Staaten ist mit einer meisterhaften Deut¬
lichkeit herausgearbeitet; und gerade wenn wir solche Abschnitte dieses Buches
mit den correspondirenden Theilen in den englischen formell oft so blenden¬
den Geschichtsbüchern zusammenhalten, gerade dann zeigen sich die Vorzüge
dieses deutschen an Ranke's Muster gebildeten Historikers in dem glänzendsten
Lichte. Von aller Effecthascherei, allen den künstlich aufgesetzten Lichtern,
allen den außerhalb der Sache liegenden pikanten Seitenbemerkungen, von
allem diesem Aufputz, der uns auch bei den guten historischen Werken eng¬
lischer Literatur den Genuß stört -— von dergleichen hält Noorden sich rein.
Wir müssen sagen, mit dieser Leistung hat sich der Verfasser in die erste Reihe
unserer heutigen Geschichtschreiber hinaufgeschwungen; — möge er sich dort
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