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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Studien sagt vom Sperling: "er ist ein gemeiner Vogel, ein Proletarier mit
allen Listen und Lastern seines Geschlechts, Verachtung und Verfolgung sind
sein Erbe/' Nun, was der Sperling unter den Vögeln, das ist die Ratte
unter den Säugethieren. Nichts kann gemeiner, habsüchtiger, sittenloser, ge¬
fräßiger und fruchtbarer sein, als eine Ratte. Beobachte man das Thier nur
einmal im Palast, in der Hütte, in Küche und Keller, im Käseladen und
der Milchkammer, im Viehstall und den Cloaken, überall die gleiche, frech
proletarierhafte, kommunistisch diebische Habsucht, Gefräßigkeit und Gemein¬
heit. Wenn im Vollen, dann wählerisch, nur mit dem Besten zufrieden, ein
wahrhafter Gastronom, ein Sybarit, der feine Seide und weichen Sammet sehr
wohl vom harten Linnen und Stroh zu unterscheiden weiß. Wenn in beschränk¬
ten Umständen, in Armuth, dann mit jeder Nahrung zufrieden, die seinen
Magen stillen, seinen steten Heißhunger befriedigen kann, seien es nun Schuh¬
sohlen oder Koth. Doch im weichen Daunenbett wie in den Kloaken, dieselbe
Sorglosigkeit, dasselbe lazaronihafte Nichtsthun, dieselbe socialdemokratische
Plünderungssucht, als hätte sie Privatisfima bei den Internationalen gehört,
dieselbe cynische Schamlosigkeit, dieselbe Streit-, Zank- und Raufsucht. Wenn
nun auch ein Proletarier vom besten Schrot und Korn, so besitzt die Ratte
doch noch eine Menge Charaktereigenthümlichkeiten, die etwas Aristokratisches
an sich haben und die, will man das Thier recht kennen lernen, nicht über¬
sehen werden dürfen. Sie ist schlau wie der Fuchs, aber auch so geleckt wie
er, beharrlich und ausdauernd wie ein Pferd, geschickt wie ein Biber, behende
wie eine Katze, muthig wie ein Tiger, besonders wenn in Schaaren, todes¬
verachtend wie ein Löwe, und dann aus der anderen Seite, ein gemeiner Kan¬
nibale, ein Kindermörder, ein Zerstörer der eigenen Race. Wo immer der
Mensch haust, da findet sich die Ratte ein. um ihn zu bestehlen; wo eine
Hütte steht und eine Kornfeime daneben, da ist sie mit ihrem Gesinde!; nur
einen Ort besucht das gottlose Thier nicht: die Tempel und die Kirchen.

Wie schon oben angedeutet, gibt es in England zwei Arten von Ratten,
von denen die braune, nach Angabe des geistreichen, aber verbissen torystischen
Naturforschers Waterton mit der Dynastie Hannover nach England gekom¬
men sein soll, wo sie in unglaublich kurzer Zeit die einheimische schwarze auf
kannibalistische Weise, bis zur Ausrottung vertilgt habe. Es scheint jedoch,
als ob sich der edele Hochtory hier in einem zwiefachen Irrthum befinde.
Zwar ist wahr, daß die schwärze, bei weitem kleinere Ratte seit der Thron¬
besteigung Georg I. sehr selten in England geworden ist, doch von einem
gänzlichen Aussterben ist noch keine Rede, da man sie in der Umgegend des
Towers von London, in der Brauerei von Whitbread und in den Raffine¬
rien zu Whitechapel in großer Menge antrifft. Sie allein herrscht dort als
Meister und wehe der braunen Ratte, die es wagen sollte, sich dort blicken


Studien sagt vom Sperling: „er ist ein gemeiner Vogel, ein Proletarier mit
allen Listen und Lastern seines Geschlechts, Verachtung und Verfolgung sind
sein Erbe/' Nun, was der Sperling unter den Vögeln, das ist die Ratte
unter den Säugethieren. Nichts kann gemeiner, habsüchtiger, sittenloser, ge¬
fräßiger und fruchtbarer sein, als eine Ratte. Beobachte man das Thier nur
einmal im Palast, in der Hütte, in Küche und Keller, im Käseladen und
der Milchkammer, im Viehstall und den Cloaken, überall die gleiche, frech
proletarierhafte, kommunistisch diebische Habsucht, Gefräßigkeit und Gemein¬
heit. Wenn im Vollen, dann wählerisch, nur mit dem Besten zufrieden, ein
wahrhafter Gastronom, ein Sybarit, der feine Seide und weichen Sammet sehr
wohl vom harten Linnen und Stroh zu unterscheiden weiß. Wenn in beschränk¬
ten Umständen, in Armuth, dann mit jeder Nahrung zufrieden, die seinen
Magen stillen, seinen steten Heißhunger befriedigen kann, seien es nun Schuh¬
sohlen oder Koth. Doch im weichen Daunenbett wie in den Kloaken, dieselbe
Sorglosigkeit, dasselbe lazaronihafte Nichtsthun, dieselbe socialdemokratische
Plünderungssucht, als hätte sie Privatisfima bei den Internationalen gehört,
dieselbe cynische Schamlosigkeit, dieselbe Streit-, Zank- und Raufsucht. Wenn
nun auch ein Proletarier vom besten Schrot und Korn, so besitzt die Ratte
doch noch eine Menge Charaktereigenthümlichkeiten, die etwas Aristokratisches
an sich haben und die, will man das Thier recht kennen lernen, nicht über¬
sehen werden dürfen. Sie ist schlau wie der Fuchs, aber auch so geleckt wie
er, beharrlich und ausdauernd wie ein Pferd, geschickt wie ein Biber, behende
wie eine Katze, muthig wie ein Tiger, besonders wenn in Schaaren, todes¬
verachtend wie ein Löwe, und dann aus der anderen Seite, ein gemeiner Kan¬
nibale, ein Kindermörder, ein Zerstörer der eigenen Race. Wo immer der
Mensch haust, da findet sich die Ratte ein. um ihn zu bestehlen; wo eine
Hütte steht und eine Kornfeime daneben, da ist sie mit ihrem Gesinde!; nur
einen Ort besucht das gottlose Thier nicht: die Tempel und die Kirchen.

Wie schon oben angedeutet, gibt es in England zwei Arten von Ratten,
von denen die braune, nach Angabe des geistreichen, aber verbissen torystischen
Naturforschers Waterton mit der Dynastie Hannover nach England gekom¬
men sein soll, wo sie in unglaublich kurzer Zeit die einheimische schwarze auf
kannibalistische Weise, bis zur Ausrottung vertilgt habe. Es scheint jedoch,
als ob sich der edele Hochtory hier in einem zwiefachen Irrthum befinde.
Zwar ist wahr, daß die schwärze, bei weitem kleinere Ratte seit der Thron¬
besteigung Georg I. sehr selten in England geworden ist, doch von einem
gänzlichen Aussterben ist noch keine Rede, da man sie in der Umgegend des
Towers von London, in der Brauerei von Whitbread und in den Raffine¬
rien zu Whitechapel in großer Menge antrifft. Sie allein herrscht dort als
Meister und wehe der braunen Ratte, die es wagen sollte, sich dort blicken


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[0187] Studien sagt vom Sperling: „er ist ein gemeiner Vogel, ein Proletarier mit allen Listen und Lastern seines Geschlechts, Verachtung und Verfolgung sind sein Erbe/' Nun, was der Sperling unter den Vögeln, das ist die Ratte unter den Säugethieren. Nichts kann gemeiner, habsüchtiger, sittenloser, ge¬ fräßiger und fruchtbarer sein, als eine Ratte. Beobachte man das Thier nur einmal im Palast, in der Hütte, in Küche und Keller, im Käseladen und der Milchkammer, im Viehstall und den Cloaken, überall die gleiche, frech proletarierhafte, kommunistisch diebische Habsucht, Gefräßigkeit und Gemein¬ heit. Wenn im Vollen, dann wählerisch, nur mit dem Besten zufrieden, ein wahrhafter Gastronom, ein Sybarit, der feine Seide und weichen Sammet sehr wohl vom harten Linnen und Stroh zu unterscheiden weiß. Wenn in beschränk¬ ten Umständen, in Armuth, dann mit jeder Nahrung zufrieden, die seinen Magen stillen, seinen steten Heißhunger befriedigen kann, seien es nun Schuh¬ sohlen oder Koth. Doch im weichen Daunenbett wie in den Kloaken, dieselbe Sorglosigkeit, dasselbe lazaronihafte Nichtsthun, dieselbe socialdemokratische Plünderungssucht, als hätte sie Privatisfima bei den Internationalen gehört, dieselbe cynische Schamlosigkeit, dieselbe Streit-, Zank- und Raufsucht. Wenn nun auch ein Proletarier vom besten Schrot und Korn, so besitzt die Ratte doch noch eine Menge Charaktereigenthümlichkeiten, die etwas Aristokratisches an sich haben und die, will man das Thier recht kennen lernen, nicht über¬ sehen werden dürfen. Sie ist schlau wie der Fuchs, aber auch so geleckt wie er, beharrlich und ausdauernd wie ein Pferd, geschickt wie ein Biber, behende wie eine Katze, muthig wie ein Tiger, besonders wenn in Schaaren, todes¬ verachtend wie ein Löwe, und dann aus der anderen Seite, ein gemeiner Kan¬ nibale, ein Kindermörder, ein Zerstörer der eigenen Race. Wo immer der Mensch haust, da findet sich die Ratte ein. um ihn zu bestehlen; wo eine Hütte steht und eine Kornfeime daneben, da ist sie mit ihrem Gesinde!; nur einen Ort besucht das gottlose Thier nicht: die Tempel und die Kirchen. Wie schon oben angedeutet, gibt es in England zwei Arten von Ratten, von denen die braune, nach Angabe des geistreichen, aber verbissen torystischen Naturforschers Waterton mit der Dynastie Hannover nach England gekom¬ men sein soll, wo sie in unglaublich kurzer Zeit die einheimische schwarze auf kannibalistische Weise, bis zur Ausrottung vertilgt habe. Es scheint jedoch, als ob sich der edele Hochtory hier in einem zwiefachen Irrthum befinde. Zwar ist wahr, daß die schwärze, bei weitem kleinere Ratte seit der Thron¬ besteigung Georg I. sehr selten in England geworden ist, doch von einem gänzlichen Aussterben ist noch keine Rede, da man sie in der Umgegend des Towers von London, in der Brauerei von Whitbread und in den Raffine¬ rien zu Whitechapel in großer Menge antrifft. Sie allein herrscht dort als Meister und wehe der braunen Ratte, die es wagen sollte, sich dort blicken

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/187>, abgerufen am 05.02.2025.