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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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ist der modernen Welt eigen, aber auch schon einzelnen Kreisen einer alten
Cultur. In diesem Sinn bezeichnet der Militarismus eine Verlciugnung der
vollständigen Anlage der Menschheit. Vielleicht wäre sehr lehrreich, die
Ursachen und Folgen der Wirksamkeit des Utilitätsprincips unter verschie¬
denen Culturbedingungen auszusuchen. Die Chinesen sind ein utilistisches
Volk vielleicht vermöge einer Schranke ihrer Begabung, die Ungko-Amerikaner
vielleicht vermöge einer Durchgangsstuse ihrer Cultur, die heutigen Engländer
vielleicht in Folge eines Versiechens der höheren Volkskräfte. Daß es einen
falschen Militarismus gibt, bezeugt Fröbel selbst in dem Kapitel über Geschäft
und Beruf, in welchem er das Wesen des Militarismus, ohne die betreffende
Ansicht mit diesem Worte zu bezeichnen, ganz richtig darein setzt: daß der
Beruf überall als Geschäft angesehen wird.

Es ist nicht wahr, daß mit der Ausbreitung der nutzbringenden Künste
und Machtmittel genau in demselben Verhältniß die sittlichen Kräfte wachsen.
Ein Wachsthum der sittlichen Mittel kann stattfinden, ohne daß diese
Mittel ihrem wahren Zweck dienstbar bleiben. Damit pflegt der Verfall der
Nationen zu beginnen. Andrerseits Pflegen die idealen Motive erst dann in
ihrer Reinheit zur Herrschaft zu gelangen, wenn das Gebiet des Nutzens bis
zu einer gewissen Grenze durchmessen und zu einer periodischen Ruhe gelangt
ist. Wir können auch sagen, daß die Menschen den richtigen Sinn für die
unendlichen Werthe nur dann erlangen, wenn ihre materielle Arbeit und der
daran geknüpfte Verkehr für einen längeren Zeitraum gewisse stehende und
regelmäßige Bahnen erobert hat. In den Zeiten materiellen Fortschritts,
die aber leicht auch diejenigen großer Verkehrs- und socialer Schwankungen
sind, werden die endlichen Werthe und ihre Gewinnung das menschliche Ge¬
müth nahe ausschließlich in Besitz nehmen. Die unendlichen Werthkräfte,
Kunst, Religion, Wissenschaft werden auch in solchen Zeiten nicht verschwin¬
den, aber sie werden in sehr elementarer Weise operiren. Aberglaube und
Freigeisterei werden sich in die religiöse Wirkung theilen, plumpe Sinnlichkeit
und Raffinement in die künstlerische, Stoffanhäufung und Pscudo-Origina¬
lität in die wissenschaftliche. Wenn der Glaube an die idealen Motive wieder
erwacht, so ist das ein Zeichen, daß die materielle Entwickelung sich einem
relativen Abschluß nähert, wenigstens ideell, sofern sie daran ist, ihr nächstes
Gebiet zu übersehen und abzustecken. Möglicherweise nähern wir uns heut
einem solchen Zeitpunkt, aber damit auch der stationären oder aristokratisch
conservativen Anschauungsweise der Weltentwickelung, welche Fröbel so treffend
M widerlegen weiß.

Abgesehen davon, daß Fröbel die Einheit der idealen und realen Inter¬
essen an einigen Punkten zu eng gesaßt hat, erweist sich der von ihm ge-


ist der modernen Welt eigen, aber auch schon einzelnen Kreisen einer alten
Cultur. In diesem Sinn bezeichnet der Militarismus eine Verlciugnung der
vollständigen Anlage der Menschheit. Vielleicht wäre sehr lehrreich, die
Ursachen und Folgen der Wirksamkeit des Utilitätsprincips unter verschie¬
denen Culturbedingungen auszusuchen. Die Chinesen sind ein utilistisches
Volk vielleicht vermöge einer Schranke ihrer Begabung, die Ungko-Amerikaner
vielleicht vermöge einer Durchgangsstuse ihrer Cultur, die heutigen Engländer
vielleicht in Folge eines Versiechens der höheren Volkskräfte. Daß es einen
falschen Militarismus gibt, bezeugt Fröbel selbst in dem Kapitel über Geschäft
und Beruf, in welchem er das Wesen des Militarismus, ohne die betreffende
Ansicht mit diesem Worte zu bezeichnen, ganz richtig darein setzt: daß der
Beruf überall als Geschäft angesehen wird.

Es ist nicht wahr, daß mit der Ausbreitung der nutzbringenden Künste
und Machtmittel genau in demselben Verhältniß die sittlichen Kräfte wachsen.
Ein Wachsthum der sittlichen Mittel kann stattfinden, ohne daß diese
Mittel ihrem wahren Zweck dienstbar bleiben. Damit pflegt der Verfall der
Nationen zu beginnen. Andrerseits Pflegen die idealen Motive erst dann in
ihrer Reinheit zur Herrschaft zu gelangen, wenn das Gebiet des Nutzens bis
zu einer gewissen Grenze durchmessen und zu einer periodischen Ruhe gelangt
ist. Wir können auch sagen, daß die Menschen den richtigen Sinn für die
unendlichen Werthe nur dann erlangen, wenn ihre materielle Arbeit und der
daran geknüpfte Verkehr für einen längeren Zeitraum gewisse stehende und
regelmäßige Bahnen erobert hat. In den Zeiten materiellen Fortschritts,
die aber leicht auch diejenigen großer Verkehrs- und socialer Schwankungen
sind, werden die endlichen Werthe und ihre Gewinnung das menschliche Ge¬
müth nahe ausschließlich in Besitz nehmen. Die unendlichen Werthkräfte,
Kunst, Religion, Wissenschaft werden auch in solchen Zeiten nicht verschwin¬
den, aber sie werden in sehr elementarer Weise operiren. Aberglaube und
Freigeisterei werden sich in die religiöse Wirkung theilen, plumpe Sinnlichkeit
und Raffinement in die künstlerische, Stoffanhäufung und Pscudo-Origina¬
lität in die wissenschaftliche. Wenn der Glaube an die idealen Motive wieder
erwacht, so ist das ein Zeichen, daß die materielle Entwickelung sich einem
relativen Abschluß nähert, wenigstens ideell, sofern sie daran ist, ihr nächstes
Gebiet zu übersehen und abzustecken. Möglicherweise nähern wir uns heut
einem solchen Zeitpunkt, aber damit auch der stationären oder aristokratisch
conservativen Anschauungsweise der Weltentwickelung, welche Fröbel so treffend
M widerlegen weiß.

Abgesehen davon, daß Fröbel die Einheit der idealen und realen Inter¬
essen an einigen Punkten zu eng gesaßt hat, erweist sich der von ihm ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/117>, abgerufen am 05.02.2025.