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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Anregung und Gelegenheit; um es mit einem Schiller'schen Gegensatz zu sagen:
er gab den "Zufall", den der Dichter zum "Zweck" gestaltete. Er zeigte ihm
wirklich gefühlte Poesie; wie der Ton auch sein mochte, ob Knittelreim, ob
reimloser Hymnus, ob Lied, ob Ballade, sofort klang es, wenn er echt
poetisch war, in dieser Seele von Neuem wieder. Der Haidenrösleinton gleich
noch einmal im "Veilchen;" in den "Werken" freilich weit davon getrennt;
jenes unter den "Liedern", dieses unter den "Balladen;" und ist doch das
zweite unmittelbar dem ersten nachgesungen: wieder drei Strophen zu 7 Ver¬
sen; dort die Geschichte vom Röslein, das auf der Haide stand, hier das
wehmüthige Duldergeschick des "Veilchens", das auf der Wiese stand und
das ein Mädchen nicht brach, sondern trat; hier fehlen die Dornen, hier fehlt
jedes Widerstreben ganz; keine Drohung: ich steche dich! nein der Wunsch:
Ach! wär' ich nur


Die schönste Blume der Natur, (wie's Röschen?)
Ach, nur ein kleines Weilchen,
Bis mich das Liebchen abgepflückt
Und an dem Busen matt gedrückt!
Ach nur, ach nur
Ein Viertelstündchen lang!

Ach! aber ach! Das Mädchen -- zertrat das arme Veilchen. Nicht stach
es- " es starb und freut' sich noch: Und sterb' ich denn, so sterb' ich doch
durch sie! durch sie! zu ihren Füßen doch!

Es ist kein Zweifel, das "Volkslied" regte zunächst zu einer kleinen zar¬
ten Besserung an: allmälig blühte daraus eine ganz neue, noch weichere,
dornenlosere Auffassung hervor. Und das neue Lied nun von einer klang¬
vollen, schmelzenden Mädchenstimme vorgetragen -- es ist mehr wie "Volks¬
lied": ganz Gefühl und Natur, wie dort: aber gehoben durch eine reiche,
tiefe, gebildete Seele.

Sofort mußte dieser lebensfrische, dem Volkslied abgelauschte Ton sich
auch in den "Liebesgedichten" zeigen; einfach und natürlich entquollen sie
bei jeder wirklichen "Gelegenheit": nie auf eine "künftige Geliebte". Goethe
fagt selbst: "Liebesgedichte habe ich nur gemacht, wenn ich liebte": -- konnte
Herder hier irgend Etwas anders wünschen?

Das ganze Verhältniß zu Friederiken stellt sich uns Nachgeborenen in
sinnlicher Lebensfülle ziemlich klar vor die Seele, wenn wir die erhaltenen
Gedichte etwa so hinter einander lesen: Nach Sesenheim ("Ich komme bald,
ihr gold'nen Kinder"), Ueber Tisch ("Nun sitzt der Ritter an dem Ort"); zu
beiden ist das Ende des 10. Buches von Wahrheit und Dichtung zu ver¬
gleichen ; Auf einen Baum im Wäldchen bei Sesenheim ("Dem Himmel wachs'
entgegen"). Friederike ("Jetzt fühlt der Engel, was ich fühle"). Willkommen


Anregung und Gelegenheit; um es mit einem Schiller'schen Gegensatz zu sagen:
er gab den „Zufall", den der Dichter zum „Zweck" gestaltete. Er zeigte ihm
wirklich gefühlte Poesie; wie der Ton auch sein mochte, ob Knittelreim, ob
reimloser Hymnus, ob Lied, ob Ballade, sofort klang es, wenn er echt
poetisch war, in dieser Seele von Neuem wieder. Der Haidenrösleinton gleich
noch einmal im „Veilchen;" in den „Werken" freilich weit davon getrennt;
jenes unter den „Liedern", dieses unter den „Balladen;" und ist doch das
zweite unmittelbar dem ersten nachgesungen: wieder drei Strophen zu 7 Ver¬
sen; dort die Geschichte vom Röslein, das auf der Haide stand, hier das
wehmüthige Duldergeschick des „Veilchens", das auf der Wiese stand und
das ein Mädchen nicht brach, sondern trat; hier fehlen die Dornen, hier fehlt
jedes Widerstreben ganz; keine Drohung: ich steche dich! nein der Wunsch:
Ach! wär' ich nur


Die schönste Blume der Natur, (wie's Röschen?)
Ach, nur ein kleines Weilchen,
Bis mich das Liebchen abgepflückt
Und an dem Busen matt gedrückt!
Ach nur, ach nur
Ein Viertelstündchen lang!

Ach! aber ach! Das Mädchen — zertrat das arme Veilchen. Nicht stach
es- „ es starb und freut' sich noch: Und sterb' ich denn, so sterb' ich doch
durch sie! durch sie! zu ihren Füßen doch!

Es ist kein Zweifel, das „Volkslied" regte zunächst zu einer kleinen zar¬
ten Besserung an: allmälig blühte daraus eine ganz neue, noch weichere,
dornenlosere Auffassung hervor. Und das neue Lied nun von einer klang¬
vollen, schmelzenden Mädchenstimme vorgetragen — es ist mehr wie „Volks¬
lied": ganz Gefühl und Natur, wie dort: aber gehoben durch eine reiche,
tiefe, gebildete Seele.

Sofort mußte dieser lebensfrische, dem Volkslied abgelauschte Ton sich
auch in den „Liebesgedichten" zeigen; einfach und natürlich entquollen sie
bei jeder wirklichen „Gelegenheit": nie auf eine „künftige Geliebte". Goethe
fagt selbst: „Liebesgedichte habe ich nur gemacht, wenn ich liebte": — konnte
Herder hier irgend Etwas anders wünschen?

Das ganze Verhältniß zu Friederiken stellt sich uns Nachgeborenen in
sinnlicher Lebensfülle ziemlich klar vor die Seele, wenn wir die erhaltenen
Gedichte etwa so hinter einander lesen: Nach Sesenheim („Ich komme bald,
ihr gold'nen Kinder"), Ueber Tisch („Nun sitzt der Ritter an dem Ort"); zu
beiden ist das Ende des 10. Buches von Wahrheit und Dichtung zu ver¬
gleichen ; Auf einen Baum im Wäldchen bei Sesenheim („Dem Himmel wachs'
entgegen"). Friederike („Jetzt fühlt der Engel, was ich fühle"). Willkommen


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[0104] Anregung und Gelegenheit; um es mit einem Schiller'schen Gegensatz zu sagen: er gab den „Zufall", den der Dichter zum „Zweck" gestaltete. Er zeigte ihm wirklich gefühlte Poesie; wie der Ton auch sein mochte, ob Knittelreim, ob reimloser Hymnus, ob Lied, ob Ballade, sofort klang es, wenn er echt poetisch war, in dieser Seele von Neuem wieder. Der Haidenrösleinton gleich noch einmal im „Veilchen;" in den „Werken" freilich weit davon getrennt; jenes unter den „Liedern", dieses unter den „Balladen;" und ist doch das zweite unmittelbar dem ersten nachgesungen: wieder drei Strophen zu 7 Ver¬ sen; dort die Geschichte vom Röslein, das auf der Haide stand, hier das wehmüthige Duldergeschick des „Veilchens", das auf der Wiese stand und das ein Mädchen nicht brach, sondern trat; hier fehlen die Dornen, hier fehlt jedes Widerstreben ganz; keine Drohung: ich steche dich! nein der Wunsch: Ach! wär' ich nur Die schönste Blume der Natur, (wie's Röschen?) Ach, nur ein kleines Weilchen, Bis mich das Liebchen abgepflückt Und an dem Busen matt gedrückt! Ach nur, ach nur Ein Viertelstündchen lang! Ach! aber ach! Das Mädchen — zertrat das arme Veilchen. Nicht stach es- „ es starb und freut' sich noch: Und sterb' ich denn, so sterb' ich doch durch sie! durch sie! zu ihren Füßen doch! Es ist kein Zweifel, das „Volkslied" regte zunächst zu einer kleinen zar¬ ten Besserung an: allmälig blühte daraus eine ganz neue, noch weichere, dornenlosere Auffassung hervor. Und das neue Lied nun von einer klang¬ vollen, schmelzenden Mädchenstimme vorgetragen — es ist mehr wie „Volks¬ lied": ganz Gefühl und Natur, wie dort: aber gehoben durch eine reiche, tiefe, gebildete Seele. Sofort mußte dieser lebensfrische, dem Volkslied abgelauschte Ton sich auch in den „Liebesgedichten" zeigen; einfach und natürlich entquollen sie bei jeder wirklichen „Gelegenheit": nie auf eine „künftige Geliebte". Goethe fagt selbst: „Liebesgedichte habe ich nur gemacht, wenn ich liebte": — konnte Herder hier irgend Etwas anders wünschen? Das ganze Verhältniß zu Friederiken stellt sich uns Nachgeborenen in sinnlicher Lebensfülle ziemlich klar vor die Seele, wenn wir die erhaltenen Gedichte etwa so hinter einander lesen: Nach Sesenheim („Ich komme bald, ihr gold'nen Kinder"), Ueber Tisch („Nun sitzt der Ritter an dem Ort"); zu beiden ist das Ende des 10. Buches von Wahrheit und Dichtung zu ver¬ gleichen ; Auf einen Baum im Wäldchen bei Sesenheim („Dem Himmel wachs' entgegen"). Friederike („Jetzt fühlt der Engel, was ich fühle"). Willkommen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/104>, abgerufen am 05.02.2025.