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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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des Invaliden und des abgedankter Grenadiers, der die Tradition der glor¬
reichen Zeit im Dorfe lebendig erhält, und des ruhmgekrönten Kaisers selbst,
der den Fremden zum Opfer gefallen ist, und dessen Scepter jetzt von einem
schwachen, entarteten, dem neuen Frankreich feindlichen Geschlechte geführt
wird. "Es war ihm," sagt Gervinus treffend, "nicht Ernst mit seinem Lobe
Napoleons; er wollte nur die Bourbonen damit ärgern." Gewiß! aber die
Wirkung blieb dieselbe, mochte es ihm Ernst sein mit seinem Lobe oder nicht.
Er war, ohne es sein zu wollen, der Hohepriester des Napoleoncultus und
Napoleon III. wußte wohl, was er that, als er noch gegen den todten Dich¬
ter sich dankbar bewies. Ohne Zweifel hat Niemand mehr als Beranger
zum Sturze der Bourbonen beigetragen, Niemand aber auch eifriger als er
den Chauvinismus geschürt, Niemand wirksamer als er -- vielleicht Thiers
ausgenommen -- die napoleonische Restauration des Jahres 1849 vorbereitet.
Beranger in einem Theile seiner Lieder und Thiers in seiner Geschichte des
Kaiserreiches haben als Pioniere den Weg gebahnt für Louis Napoleon, der,
ohne daß Jemand von dem Dasein einer kaiserlichen Partei eine Ahnung
hatte, im Augenblicke, wo er ihrer bedürfte, über 7 Millionen Bonapartisten
zu verfügen hatte.

Die republikanische Partei war damals noch nicht soweit erstarkt,
um selbstständig mit offenem Visir auf dem Kampfplatz erscheinen zu können:
sie bewegte sich in der Öffentlichkeit möglichst im constitutionellen Fahrwasser.
Eine größere Bedeutung gewann sie dagegen in den zahlreichen geheimen
Gesellschaften, an deren Spitze zwar zum Theil Männer von fehr gemäßig¬
ten Grundsätzen standen, wie der Herzog von Broglie und Casimir Perier,
in denen aber sehr bald eine revolutionäre Strömung sich fühlbar machte.
Meist zu dem Zwecke gestiftet, mit gesetzlichen Mitteln die constitutionelle
Freiheit zu fördern und die Thätigkeit der liberalen Partei planmäßig zu
leiten, die Zersplitterung der Kräfte zu verhüten, wurden die Gesellschaften
unter der Hand die Herde beständiger Verschwörungen, die sich gelegentlich in
Aufstandsversuchen Luft machten. Die nach der Ermordung des Herzogs von
Verry eingetretene Reaction übte zwar Anfangs einen deprimirenden Einfluß
auf die Gesellschaften aus, steigerte aber, nachdem der erste Schrecken sich ge-
legr hatte, ihre Leidenschaft wie ihre Thätigkeit in bedenklichem Maße. In
den leitenden Ausschüssen fanden sich vorzugsweise Republikaner und Orleani-
sten zusammen, während die gemäßigten Liberalen sich mehr zurückhielten,
ohne jedoch ihre Verbindungen mit den Radicalen ganz abzubrechen. Das
Scheitern einiger Aufstandsversuche desorganifirte die Gesellschaften und
nöthigte die Häupter, unter ihnen Lafayette, die einer Anklage nur ent¬
gingen, weil es an ausreichenden Beweismitteln fehlte, zu größerer Vorsicht.


Grenzboten II. 1871. 12

des Invaliden und des abgedankter Grenadiers, der die Tradition der glor¬
reichen Zeit im Dorfe lebendig erhält, und des ruhmgekrönten Kaisers selbst,
der den Fremden zum Opfer gefallen ist, und dessen Scepter jetzt von einem
schwachen, entarteten, dem neuen Frankreich feindlichen Geschlechte geführt
wird. „Es war ihm," sagt Gervinus treffend, „nicht Ernst mit seinem Lobe
Napoleons; er wollte nur die Bourbonen damit ärgern." Gewiß! aber die
Wirkung blieb dieselbe, mochte es ihm Ernst sein mit seinem Lobe oder nicht.
Er war, ohne es sein zu wollen, der Hohepriester des Napoleoncultus und
Napoleon III. wußte wohl, was er that, als er noch gegen den todten Dich¬
ter sich dankbar bewies. Ohne Zweifel hat Niemand mehr als Beranger
zum Sturze der Bourbonen beigetragen, Niemand aber auch eifriger als er
den Chauvinismus geschürt, Niemand wirksamer als er — vielleicht Thiers
ausgenommen — die napoleonische Restauration des Jahres 1849 vorbereitet.
Beranger in einem Theile seiner Lieder und Thiers in seiner Geschichte des
Kaiserreiches haben als Pioniere den Weg gebahnt für Louis Napoleon, der,
ohne daß Jemand von dem Dasein einer kaiserlichen Partei eine Ahnung
hatte, im Augenblicke, wo er ihrer bedürfte, über 7 Millionen Bonapartisten
zu verfügen hatte.

Die republikanische Partei war damals noch nicht soweit erstarkt,
um selbstständig mit offenem Visir auf dem Kampfplatz erscheinen zu können:
sie bewegte sich in der Öffentlichkeit möglichst im constitutionellen Fahrwasser.
Eine größere Bedeutung gewann sie dagegen in den zahlreichen geheimen
Gesellschaften, an deren Spitze zwar zum Theil Männer von fehr gemäßig¬
ten Grundsätzen standen, wie der Herzog von Broglie und Casimir Perier,
in denen aber sehr bald eine revolutionäre Strömung sich fühlbar machte.
Meist zu dem Zwecke gestiftet, mit gesetzlichen Mitteln die constitutionelle
Freiheit zu fördern und die Thätigkeit der liberalen Partei planmäßig zu
leiten, die Zersplitterung der Kräfte zu verhüten, wurden die Gesellschaften
unter der Hand die Herde beständiger Verschwörungen, die sich gelegentlich in
Aufstandsversuchen Luft machten. Die nach der Ermordung des Herzogs von
Verry eingetretene Reaction übte zwar Anfangs einen deprimirenden Einfluß
auf die Gesellschaften aus, steigerte aber, nachdem der erste Schrecken sich ge-
legr hatte, ihre Leidenschaft wie ihre Thätigkeit in bedenklichem Maße. In
den leitenden Ausschüssen fanden sich vorzugsweise Republikaner und Orleani-
sten zusammen, während die gemäßigten Liberalen sich mehr zurückhielten,
ohne jedoch ihre Verbindungen mit den Radicalen ganz abzubrechen. Das
Scheitern einiger Aufstandsversuche desorganifirte die Gesellschaften und
nöthigte die Häupter, unter ihnen Lafayette, die einer Anklage nur ent¬
gingen, weil es an ausreichenden Beweismitteln fehlte, zu größerer Vorsicht.


Grenzboten II. 1871. 12
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[0097] des Invaliden und des abgedankter Grenadiers, der die Tradition der glor¬ reichen Zeit im Dorfe lebendig erhält, und des ruhmgekrönten Kaisers selbst, der den Fremden zum Opfer gefallen ist, und dessen Scepter jetzt von einem schwachen, entarteten, dem neuen Frankreich feindlichen Geschlechte geführt wird. „Es war ihm," sagt Gervinus treffend, „nicht Ernst mit seinem Lobe Napoleons; er wollte nur die Bourbonen damit ärgern." Gewiß! aber die Wirkung blieb dieselbe, mochte es ihm Ernst sein mit seinem Lobe oder nicht. Er war, ohne es sein zu wollen, der Hohepriester des Napoleoncultus und Napoleon III. wußte wohl, was er that, als er noch gegen den todten Dich¬ ter sich dankbar bewies. Ohne Zweifel hat Niemand mehr als Beranger zum Sturze der Bourbonen beigetragen, Niemand aber auch eifriger als er den Chauvinismus geschürt, Niemand wirksamer als er — vielleicht Thiers ausgenommen — die napoleonische Restauration des Jahres 1849 vorbereitet. Beranger in einem Theile seiner Lieder und Thiers in seiner Geschichte des Kaiserreiches haben als Pioniere den Weg gebahnt für Louis Napoleon, der, ohne daß Jemand von dem Dasein einer kaiserlichen Partei eine Ahnung hatte, im Augenblicke, wo er ihrer bedürfte, über 7 Millionen Bonapartisten zu verfügen hatte. Die republikanische Partei war damals noch nicht soweit erstarkt, um selbstständig mit offenem Visir auf dem Kampfplatz erscheinen zu können: sie bewegte sich in der Öffentlichkeit möglichst im constitutionellen Fahrwasser. Eine größere Bedeutung gewann sie dagegen in den zahlreichen geheimen Gesellschaften, an deren Spitze zwar zum Theil Männer von fehr gemäßig¬ ten Grundsätzen standen, wie der Herzog von Broglie und Casimir Perier, in denen aber sehr bald eine revolutionäre Strömung sich fühlbar machte. Meist zu dem Zwecke gestiftet, mit gesetzlichen Mitteln die constitutionelle Freiheit zu fördern und die Thätigkeit der liberalen Partei planmäßig zu leiten, die Zersplitterung der Kräfte zu verhüten, wurden die Gesellschaften unter der Hand die Herde beständiger Verschwörungen, die sich gelegentlich in Aufstandsversuchen Luft machten. Die nach der Ermordung des Herzogs von Verry eingetretene Reaction übte zwar Anfangs einen deprimirenden Einfluß auf die Gesellschaften aus, steigerte aber, nachdem der erste Schrecken sich ge- legr hatte, ihre Leidenschaft wie ihre Thätigkeit in bedenklichem Maße. In den leitenden Ausschüssen fanden sich vorzugsweise Republikaner und Orleani- sten zusammen, während die gemäßigten Liberalen sich mehr zurückhielten, ohne jedoch ihre Verbindungen mit den Radicalen ganz abzubrechen. Das Scheitern einiger Aufstandsversuche desorganifirte die Gesellschaften und nöthigte die Häupter, unter ihnen Lafayette, die einer Anklage nur ent¬ gingen, weil es an ausreichenden Beweismitteln fehlte, zu größerer Vorsicht. Grenzboten II. 1871. 12

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/97>, abgerufen am 24.07.2024.