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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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neue Periode unserer Literaturgeschichte; der Unterschied zwischen den Zeitab¬
schnitten vor und nach Herder's Einwirkung ist noch einschneidender und
schärfer.

An Klopstock haften noch hemmend und irreleitend die Reste einer
alten, verbildeten Zeit; mit dem Geschlecht, das Herder seine Geburt ver¬
dankt, beginnt in schroffer Abkehr ein absolut Neues, das auch die meisten
Schöpfungen Klopstock's in die Vergessenheit drängte. Dies an den Erst¬
lingen der neuen Zeit, an Gedichten des lyrischen und lyrisch-epischen
Genres aus der ersten Hälfte der siebziger Jahre zu zeigen, ist Absicht der
folgenden Zeilen. Es ist die Zeit vor Goethe's Uebersiedelung nach Weimar,
wo für sein Leben wie für sein Dichten ein völlig neuer Abschnitt beginnt.
Nur dann soll in die Weimarer Zeit selbst übergegriffen werden, wenn zufällig
für die vorherliegende Anregung Herder's erst hier der abschließende Aus¬
druck gefunden ist.

Von Schiller ist gar nicht nöthig zu sprechen; das erste von ihm ver¬
öffentlichte Gedicht, "der Abend" im Schwäbischen Magazin des Jahres 1776
liegt außerhalb des begrenzten Abschnittes und sein Dichten bleibt überhaupt
fast ganz außerhalb Herder'scher Wirkungssphäre. Aber hinein fallen der Göt¬
tinger Musenalmanach unter Boje'scher Redaction und I. G. Jacobis Iris,
die beiden Zeitschriften, in welche die neue lyrische Richtung ihre Productionen
niederlegte.

Um Werth und Bedeutung des Neuxn ganz zu würdigen, muß auf das
Alte hingewiesen werden, was verdrängt werden sollte und nun -- wie wir
sehen -- verdrängt ist.

Was fand Herder aus dem angegebenen Gebiet für eine Poesie vor?

Völlig abgestorben war immer noch nicht jene von Gottsched nicht be¬
gründete aber neugefestigte, Vers für Vers nach grammatischer und metrischer
Regel correct vortragende, Boileau'scher Aesthetik, antiken und französischen
Mustern nachklimmende, geistes- und gefühlsarme Alexandrinerpoesie, gegen
welche sich vor damals zwanzig Jahren Klopstocks erhabene, prächtig und
schwungvoll daherrauschende Odendichtung feindlich erhoben hatte. Klopstock
selbst hatte.inzwischen seltsame Wandlungen durchgemacht. Als er auftrat,
stürmte und klopfte in seiner jugendlich begeisterten, deutschen Brust der sehn¬
süchtige Wunsch, der Nation der langentbehrte Volksdichter zu werden.
Der mußte in freiem, großem Stile erscheinen; alle bisherige Poesie fand er
wässerig, seicht, nüchtern und armselig. Das Haupthemmniß schien ihm der
Alexandriner und der Reim. Zu der stolzen Höhe, auf welche sich durch ihn
Deutschlands Poesie hinaufschwingen sollte, konnte ihm, so meinte er, allein
der mächtige Flügelschlag antiker Rhythmen, vorzüglich der Horazischen Ode
tragen. Sie wurde die Form, in welche er seine edlen einmal starken und


neue Periode unserer Literaturgeschichte; der Unterschied zwischen den Zeitab¬
schnitten vor und nach Herder's Einwirkung ist noch einschneidender und
schärfer.

An Klopstock haften noch hemmend und irreleitend die Reste einer
alten, verbildeten Zeit; mit dem Geschlecht, das Herder seine Geburt ver¬
dankt, beginnt in schroffer Abkehr ein absolut Neues, das auch die meisten
Schöpfungen Klopstock's in die Vergessenheit drängte. Dies an den Erst¬
lingen der neuen Zeit, an Gedichten des lyrischen und lyrisch-epischen
Genres aus der ersten Hälfte der siebziger Jahre zu zeigen, ist Absicht der
folgenden Zeilen. Es ist die Zeit vor Goethe's Uebersiedelung nach Weimar,
wo für sein Leben wie für sein Dichten ein völlig neuer Abschnitt beginnt.
Nur dann soll in die Weimarer Zeit selbst übergegriffen werden, wenn zufällig
für die vorherliegende Anregung Herder's erst hier der abschließende Aus¬
druck gefunden ist.

Von Schiller ist gar nicht nöthig zu sprechen; das erste von ihm ver¬
öffentlichte Gedicht, „der Abend" im Schwäbischen Magazin des Jahres 1776
liegt außerhalb des begrenzten Abschnittes und sein Dichten bleibt überhaupt
fast ganz außerhalb Herder'scher Wirkungssphäre. Aber hinein fallen der Göt¬
tinger Musenalmanach unter Boje'scher Redaction und I. G. Jacobis Iris,
die beiden Zeitschriften, in welche die neue lyrische Richtung ihre Productionen
niederlegte.

Um Werth und Bedeutung des Neuxn ganz zu würdigen, muß auf das
Alte hingewiesen werden, was verdrängt werden sollte und nun — wie wir
sehen — verdrängt ist.

Was fand Herder aus dem angegebenen Gebiet für eine Poesie vor?

Völlig abgestorben war immer noch nicht jene von Gottsched nicht be¬
gründete aber neugefestigte, Vers für Vers nach grammatischer und metrischer
Regel correct vortragende, Boileau'scher Aesthetik, antiken und französischen
Mustern nachklimmende, geistes- und gefühlsarme Alexandrinerpoesie, gegen
welche sich vor damals zwanzig Jahren Klopstocks erhabene, prächtig und
schwungvoll daherrauschende Odendichtung feindlich erhoben hatte. Klopstock
selbst hatte.inzwischen seltsame Wandlungen durchgemacht. Als er auftrat,
stürmte und klopfte in seiner jugendlich begeisterten, deutschen Brust der sehn¬
süchtige Wunsch, der Nation der langentbehrte Volksdichter zu werden.
Der mußte in freiem, großem Stile erscheinen; alle bisherige Poesie fand er
wässerig, seicht, nüchtern und armselig. Das Haupthemmniß schien ihm der
Alexandriner und der Reim. Zu der stolzen Höhe, auf welche sich durch ihn
Deutschlands Poesie hinaufschwingen sollte, konnte ihm, so meinte er, allein
der mächtige Flügelschlag antiker Rhythmen, vorzüglich der Horazischen Ode
tragen. Sie wurde die Form, in welche er seine edlen einmal starken und


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[0543] neue Periode unserer Literaturgeschichte; der Unterschied zwischen den Zeitab¬ schnitten vor und nach Herder's Einwirkung ist noch einschneidender und schärfer. An Klopstock haften noch hemmend und irreleitend die Reste einer alten, verbildeten Zeit; mit dem Geschlecht, das Herder seine Geburt ver¬ dankt, beginnt in schroffer Abkehr ein absolut Neues, das auch die meisten Schöpfungen Klopstock's in die Vergessenheit drängte. Dies an den Erst¬ lingen der neuen Zeit, an Gedichten des lyrischen und lyrisch-epischen Genres aus der ersten Hälfte der siebziger Jahre zu zeigen, ist Absicht der folgenden Zeilen. Es ist die Zeit vor Goethe's Uebersiedelung nach Weimar, wo für sein Leben wie für sein Dichten ein völlig neuer Abschnitt beginnt. Nur dann soll in die Weimarer Zeit selbst übergegriffen werden, wenn zufällig für die vorherliegende Anregung Herder's erst hier der abschließende Aus¬ druck gefunden ist. Von Schiller ist gar nicht nöthig zu sprechen; das erste von ihm ver¬ öffentlichte Gedicht, „der Abend" im Schwäbischen Magazin des Jahres 1776 liegt außerhalb des begrenzten Abschnittes und sein Dichten bleibt überhaupt fast ganz außerhalb Herder'scher Wirkungssphäre. Aber hinein fallen der Göt¬ tinger Musenalmanach unter Boje'scher Redaction und I. G. Jacobis Iris, die beiden Zeitschriften, in welche die neue lyrische Richtung ihre Productionen niederlegte. Um Werth und Bedeutung des Neuxn ganz zu würdigen, muß auf das Alte hingewiesen werden, was verdrängt werden sollte und nun — wie wir sehen — verdrängt ist. Was fand Herder aus dem angegebenen Gebiet für eine Poesie vor? Völlig abgestorben war immer noch nicht jene von Gottsched nicht be¬ gründete aber neugefestigte, Vers für Vers nach grammatischer und metrischer Regel correct vortragende, Boileau'scher Aesthetik, antiken und französischen Mustern nachklimmende, geistes- und gefühlsarme Alexandrinerpoesie, gegen welche sich vor damals zwanzig Jahren Klopstocks erhabene, prächtig und schwungvoll daherrauschende Odendichtung feindlich erhoben hatte. Klopstock selbst hatte.inzwischen seltsame Wandlungen durchgemacht. Als er auftrat, stürmte und klopfte in seiner jugendlich begeisterten, deutschen Brust der sehn¬ süchtige Wunsch, der Nation der langentbehrte Volksdichter zu werden. Der mußte in freiem, großem Stile erscheinen; alle bisherige Poesie fand er wässerig, seicht, nüchtern und armselig. Das Haupthemmniß schien ihm der Alexandriner und der Reim. Zu der stolzen Höhe, auf welche sich durch ihn Deutschlands Poesie hinaufschwingen sollte, konnte ihm, so meinte er, allein der mächtige Flügelschlag antiker Rhythmen, vorzüglich der Horazischen Ode tragen. Sie wurde die Form, in welche er seine edlen einmal starken und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/543>, abgerufen am 24.07.2024.