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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Wünsche des Einzelnen auch dann zu berücksichtigen, wenn
jenes voraussichtlich darunter leidet.

Schon in der "Einleitung" finden wir den Kern der vorliegenden 144
Seiten umfassenden Schrift Hertzbergs. Es ist darin unter Anderem gesagt,
daß die von den befestigten Städten aus begonnene Agitation so lange rein
localer Bedeutung gewesen sei, als sie sich darauf beschränkt habe, nur ein¬
zelne Modificationen des vom Staate adoptirten Landesvertheidigungssystems
auf Grund unabweislicher Bedürfnisse einzelner Orte zu erstreben; ob es
aber nach Balancirung der strategischen und staatsökonomischen Rücksichten
für angemessener und dem allgemeinen Staatsinteresse entsprechender zu er¬
achten sei, dieses oder jenes einzelne Glied des bestehenden Systems beizube¬
halten oder durch Neuanlagen zu ersetzen, oder endlich einfach wegfallen zu
lassen, darüber möchten die Meinungen immerhin aus einander gehen, die
Grundprincipien des Systems seien dadurch noch nicht berührt, das Vertrauen
in ihre Richtigkeit noch nicht erschüttert worden. Es wäre ja möglich, daß
nach reiflicher Erwägung an maßgebender Stelle Stettin oder Magdeburg,
Erfurt oder Minden für eben so entbehrlich erachtet würden, wie früher
Jülich, Silberberg und Schweidnitz; man könnte sich vielleicht auch dafür
entscheiden, statt Köln-Deutz künftig Neuß-Düsseldorf als Mittelglied zwischen
Coblenz zu behandeln, einen dort geschaffenen Centralplatz auch zum Centrum
der rheinischen Bahnen zu etabliren und Köln künftig als offenen Ort unter
den Kanonen eines möglichst stark befestigten Sperrforts Deutz, den Konse¬
quenzen dieses Verhältnisses und seinem Schicksal bei einem dereinstigen Kriege
zu überlassen. Das alles seien aber interessante Zweckmäßigkeitsfragen zweiten
Ranges gewesen, deren Ventilirung man ruhig den Interessenten anheim
stellen konnte; nun aber sei die Agitation in ein neues Stadium getreten,
ihr Charakter ein anderer geworden. Statt isolirte Aenderungen zu erstreben,
scheine einfacher und leichter zum Ziele führend, gleich am Ganzen zu rütteln
und namentlich die Idee der Befestigung und Vertheidigung großer Städte
ein für alle Mal über Bord zu werfen.

In einseitiger Uebertreibung der Mißstände, welche der jetzige Zustand
der Befestigungen mit sich führe und bei fast völligem Jgnoriren der Ma߬
regeln, welche jenen Mißständen abzuhelfen geeignet wären, proelamire man
die Werthlosigkeit und Unfähigkeit zur Vertheidigung der Stadtfestungen als
ein Axiom, dessen Wahrheit von "Capacitäten ersten Ranges in strategischen
und fortificatorischen Fragen," wie auch "von dem einsichtsvolleren und streb¬
sameren Theile der Offiziere" allgemein anerkannt würden, ja, dem auch der
Generalstab sich zuneige; es wäre beinahe schon compromittirend, den alten
Unsinn noch zu verfechten, überhaupt noch das Wort zu Gunsten der vielge-
schmähten Städtebefestigung zu erheben.


Wünsche des Einzelnen auch dann zu berücksichtigen, wenn
jenes voraussichtlich darunter leidet.

Schon in der „Einleitung" finden wir den Kern der vorliegenden 144
Seiten umfassenden Schrift Hertzbergs. Es ist darin unter Anderem gesagt,
daß die von den befestigten Städten aus begonnene Agitation so lange rein
localer Bedeutung gewesen sei, als sie sich darauf beschränkt habe, nur ein¬
zelne Modificationen des vom Staate adoptirten Landesvertheidigungssystems
auf Grund unabweislicher Bedürfnisse einzelner Orte zu erstreben; ob es
aber nach Balancirung der strategischen und staatsökonomischen Rücksichten
für angemessener und dem allgemeinen Staatsinteresse entsprechender zu er¬
achten sei, dieses oder jenes einzelne Glied des bestehenden Systems beizube¬
halten oder durch Neuanlagen zu ersetzen, oder endlich einfach wegfallen zu
lassen, darüber möchten die Meinungen immerhin aus einander gehen, die
Grundprincipien des Systems seien dadurch noch nicht berührt, das Vertrauen
in ihre Richtigkeit noch nicht erschüttert worden. Es wäre ja möglich, daß
nach reiflicher Erwägung an maßgebender Stelle Stettin oder Magdeburg,
Erfurt oder Minden für eben so entbehrlich erachtet würden, wie früher
Jülich, Silberberg und Schweidnitz; man könnte sich vielleicht auch dafür
entscheiden, statt Köln-Deutz künftig Neuß-Düsseldorf als Mittelglied zwischen
Coblenz zu behandeln, einen dort geschaffenen Centralplatz auch zum Centrum
der rheinischen Bahnen zu etabliren und Köln künftig als offenen Ort unter
den Kanonen eines möglichst stark befestigten Sperrforts Deutz, den Konse¬
quenzen dieses Verhältnisses und seinem Schicksal bei einem dereinstigen Kriege
zu überlassen. Das alles seien aber interessante Zweckmäßigkeitsfragen zweiten
Ranges gewesen, deren Ventilirung man ruhig den Interessenten anheim
stellen konnte; nun aber sei die Agitation in ein neues Stadium getreten,
ihr Charakter ein anderer geworden. Statt isolirte Aenderungen zu erstreben,
scheine einfacher und leichter zum Ziele führend, gleich am Ganzen zu rütteln
und namentlich die Idee der Befestigung und Vertheidigung großer Städte
ein für alle Mal über Bord zu werfen.

In einseitiger Uebertreibung der Mißstände, welche der jetzige Zustand
der Befestigungen mit sich führe und bei fast völligem Jgnoriren der Ma߬
regeln, welche jenen Mißständen abzuhelfen geeignet wären, proelamire man
die Werthlosigkeit und Unfähigkeit zur Vertheidigung der Stadtfestungen als
ein Axiom, dessen Wahrheit von „Capacitäten ersten Ranges in strategischen
und fortificatorischen Fragen," wie auch „von dem einsichtsvolleren und streb¬
sameren Theile der Offiziere" allgemein anerkannt würden, ja, dem auch der
Generalstab sich zuneige; es wäre beinahe schon compromittirend, den alten
Unsinn noch zu verfechten, überhaupt noch das Wort zu Gunsten der vielge-
schmähten Städtebefestigung zu erheben.


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[0389] Wünsche des Einzelnen auch dann zu berücksichtigen, wenn jenes voraussichtlich darunter leidet. Schon in der „Einleitung" finden wir den Kern der vorliegenden 144 Seiten umfassenden Schrift Hertzbergs. Es ist darin unter Anderem gesagt, daß die von den befestigten Städten aus begonnene Agitation so lange rein localer Bedeutung gewesen sei, als sie sich darauf beschränkt habe, nur ein¬ zelne Modificationen des vom Staate adoptirten Landesvertheidigungssystems auf Grund unabweislicher Bedürfnisse einzelner Orte zu erstreben; ob es aber nach Balancirung der strategischen und staatsökonomischen Rücksichten für angemessener und dem allgemeinen Staatsinteresse entsprechender zu er¬ achten sei, dieses oder jenes einzelne Glied des bestehenden Systems beizube¬ halten oder durch Neuanlagen zu ersetzen, oder endlich einfach wegfallen zu lassen, darüber möchten die Meinungen immerhin aus einander gehen, die Grundprincipien des Systems seien dadurch noch nicht berührt, das Vertrauen in ihre Richtigkeit noch nicht erschüttert worden. Es wäre ja möglich, daß nach reiflicher Erwägung an maßgebender Stelle Stettin oder Magdeburg, Erfurt oder Minden für eben so entbehrlich erachtet würden, wie früher Jülich, Silberberg und Schweidnitz; man könnte sich vielleicht auch dafür entscheiden, statt Köln-Deutz künftig Neuß-Düsseldorf als Mittelglied zwischen Coblenz zu behandeln, einen dort geschaffenen Centralplatz auch zum Centrum der rheinischen Bahnen zu etabliren und Köln künftig als offenen Ort unter den Kanonen eines möglichst stark befestigten Sperrforts Deutz, den Konse¬ quenzen dieses Verhältnisses und seinem Schicksal bei einem dereinstigen Kriege zu überlassen. Das alles seien aber interessante Zweckmäßigkeitsfragen zweiten Ranges gewesen, deren Ventilirung man ruhig den Interessenten anheim stellen konnte; nun aber sei die Agitation in ein neues Stadium getreten, ihr Charakter ein anderer geworden. Statt isolirte Aenderungen zu erstreben, scheine einfacher und leichter zum Ziele führend, gleich am Ganzen zu rütteln und namentlich die Idee der Befestigung und Vertheidigung großer Städte ein für alle Mal über Bord zu werfen. In einseitiger Uebertreibung der Mißstände, welche der jetzige Zustand der Befestigungen mit sich führe und bei fast völligem Jgnoriren der Ma߬ regeln, welche jenen Mißständen abzuhelfen geeignet wären, proelamire man die Werthlosigkeit und Unfähigkeit zur Vertheidigung der Stadtfestungen als ein Axiom, dessen Wahrheit von „Capacitäten ersten Ranges in strategischen und fortificatorischen Fragen," wie auch „von dem einsichtsvolleren und streb¬ sameren Theile der Offiziere" allgemein anerkannt würden, ja, dem auch der Generalstab sich zuneige; es wäre beinahe schon compromittirend, den alten Unsinn noch zu verfechten, überhaupt noch das Wort zu Gunsten der vielge- schmähten Städtebefestigung zu erheben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/389>, abgerufen am 25.07.2024.