Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

die Beseitigung Gambetta's erst nach der Vernichtung aller Streitkräfte des
Staates erfolgte, ist eben der schlagendste Beweis für das Uebergewicht der
Hauptstadt über das ganze Land. Die Ueberzeugung von dem Wahnsinne
des Widerstandes hatte die Gegner des Krieges nicht zu einer Friedenspartei
zu vereinigen vermocht; erst mit dem Aufhören des Kampfes, in Folge der
absoluten Unmöglichkeit, neue Streitmassen dem Feinde entgegenzustellen, brach
die Kriegspartei in sich zusammen.

Die Wahlen zur Nationalversammlung wurden in überwiegender Mehr¬
heit von der Landbevölkerung entschieden, die vor etwa einem Jahre Napo¬
leon ein so glänzendes Vertrauensvotum ertheilt hatte. Da aber die Wahl
von Bonapartisten damals eine Unmöglichkeit war (wie sie es auch noch in
diesem Augenblick ist), so griffen die "Bauern" auf die alten Parteien, die
Bourbonisten und die Orleanisten zurück, jedoch nur, weil sie in ihnen ent¬
schiedene Gegner der Pariser Kriegspartei, des demokratischen, socialistisch ge¬
färbten Radicalismus sahen. Kaum war aber der Frieden zum Abschluß
gebracht, so steckten die Anhänger der beiden alten Monarchieen ihr Banner
auf. Es begannen im Stillen einerseits die Bemühungen, die beiden Linien
zu verschmelzen, andererseits die Intriguen, die den Kampf um die Staats¬
form einleiten sollten, aber in überraschender Weise durch den leichtsinnig
heraufbeschworenen Communistenaufstand unterbrochen wurden. Wir verzich¬
ten hier darauf, die Masse der Aufständischen nach ihren Bestandtheilen zu
zergliedern und die Fäden zu entwirren, die in der Commune zusammenliefen;
für unseren Zweck genügt, die eine für die Beurtheilung der französischen
Verhältnisse maßgebende Thatsache hervorzuheben, daß der Aufstand ur¬
sprünglich den Charakter einer Reaction des hauptstädtischen centralisi-
renden Radicalismus gegen die der Pariser Herrschaft überdrüßige Land¬
bevölkerung an sich trug, und daß er nur nach und nach später, seinen
ursprünglichen Triebfedern gerade entgegengesetzt, sich mit dem Banner der
Communalfreiheit zu decken suchte, mit dem nicht bloß stillen, sondern ge¬
legentlich klar genug angedeuteten Vorbehalte, auf dem Wege der Assimilirung
aller übrigen Gemeinden zu der Centralisation der Staatsgewalt in der Hand
der Pariser Bevölkerung zurückzukehren. Es war eine höchst seltsame, aber
durch die Verhältnisse mit Nothwendigkeit herbeigeführte Verkehrung der Sach¬
lage, daß Paris scheinbar für das Programm der DecentraUsation, die De¬
partements für die Staatseinheit kämpften.

Vielleicht wird sich später die Gelegenheit bieten, diese Verwirrung der
Begriffe und Verhältnisse, sowie die theilweise erfolgte Klärung der Sachlage
eingehender zu erörtern; hier, wo wir es nur mit der Entwickelung des Partei¬
wesens zu thun haben, sei zunächst bemerkt, daß der Versuch, den Gegensatz
des ländlichen und städtischen vierten Standes für monarchische Parteizwecke


die Beseitigung Gambetta's erst nach der Vernichtung aller Streitkräfte des
Staates erfolgte, ist eben der schlagendste Beweis für das Uebergewicht der
Hauptstadt über das ganze Land. Die Ueberzeugung von dem Wahnsinne
des Widerstandes hatte die Gegner des Krieges nicht zu einer Friedenspartei
zu vereinigen vermocht; erst mit dem Aufhören des Kampfes, in Folge der
absoluten Unmöglichkeit, neue Streitmassen dem Feinde entgegenzustellen, brach
die Kriegspartei in sich zusammen.

Die Wahlen zur Nationalversammlung wurden in überwiegender Mehr¬
heit von der Landbevölkerung entschieden, die vor etwa einem Jahre Napo¬
leon ein so glänzendes Vertrauensvotum ertheilt hatte. Da aber die Wahl
von Bonapartisten damals eine Unmöglichkeit war (wie sie es auch noch in
diesem Augenblick ist), so griffen die „Bauern" auf die alten Parteien, die
Bourbonisten und die Orleanisten zurück, jedoch nur, weil sie in ihnen ent¬
schiedene Gegner der Pariser Kriegspartei, des demokratischen, socialistisch ge¬
färbten Radicalismus sahen. Kaum war aber der Frieden zum Abschluß
gebracht, so steckten die Anhänger der beiden alten Monarchieen ihr Banner
auf. Es begannen im Stillen einerseits die Bemühungen, die beiden Linien
zu verschmelzen, andererseits die Intriguen, die den Kampf um die Staats¬
form einleiten sollten, aber in überraschender Weise durch den leichtsinnig
heraufbeschworenen Communistenaufstand unterbrochen wurden. Wir verzich¬
ten hier darauf, die Masse der Aufständischen nach ihren Bestandtheilen zu
zergliedern und die Fäden zu entwirren, die in der Commune zusammenliefen;
für unseren Zweck genügt, die eine für die Beurtheilung der französischen
Verhältnisse maßgebende Thatsache hervorzuheben, daß der Aufstand ur¬
sprünglich den Charakter einer Reaction des hauptstädtischen centralisi-
renden Radicalismus gegen die der Pariser Herrschaft überdrüßige Land¬
bevölkerung an sich trug, und daß er nur nach und nach später, seinen
ursprünglichen Triebfedern gerade entgegengesetzt, sich mit dem Banner der
Communalfreiheit zu decken suchte, mit dem nicht bloß stillen, sondern ge¬
legentlich klar genug angedeuteten Vorbehalte, auf dem Wege der Assimilirung
aller übrigen Gemeinden zu der Centralisation der Staatsgewalt in der Hand
der Pariser Bevölkerung zurückzukehren. Es war eine höchst seltsame, aber
durch die Verhältnisse mit Nothwendigkeit herbeigeführte Verkehrung der Sach¬
lage, daß Paris scheinbar für das Programm der DecentraUsation, die De¬
partements für die Staatseinheit kämpften.

Vielleicht wird sich später die Gelegenheit bieten, diese Verwirrung der
Begriffe und Verhältnisse, sowie die theilweise erfolgte Klärung der Sachlage
eingehender zu erörtern; hier, wo wir es nur mit der Entwickelung des Partei¬
wesens zu thun haben, sei zunächst bemerkt, daß der Versuch, den Gegensatz
des ländlichen und städtischen vierten Standes für monarchische Parteizwecke


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0340" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/126616"/>
            <p xml:id="ID_1045" prev="#ID_1044"> die Beseitigung Gambetta's erst nach der Vernichtung aller Streitkräfte des<lb/>
Staates erfolgte, ist eben der schlagendste Beweis für das Uebergewicht der<lb/>
Hauptstadt über das ganze Land. Die Ueberzeugung von dem Wahnsinne<lb/>
des Widerstandes hatte die Gegner des Krieges nicht zu einer Friedenspartei<lb/>
zu vereinigen vermocht; erst mit dem Aufhören des Kampfes, in Folge der<lb/>
absoluten Unmöglichkeit, neue Streitmassen dem Feinde entgegenzustellen, brach<lb/>
die Kriegspartei in sich zusammen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1046"> Die Wahlen zur Nationalversammlung wurden in überwiegender Mehr¬<lb/>
heit von der Landbevölkerung entschieden, die vor etwa einem Jahre Napo¬<lb/>
leon ein so glänzendes Vertrauensvotum ertheilt hatte. Da aber die Wahl<lb/>
von Bonapartisten damals eine Unmöglichkeit war (wie sie es auch noch in<lb/>
diesem Augenblick ist), so griffen die &#x201E;Bauern" auf die alten Parteien, die<lb/>
Bourbonisten und die Orleanisten zurück, jedoch nur, weil sie in ihnen ent¬<lb/>
schiedene Gegner der Pariser Kriegspartei, des demokratischen, socialistisch ge¬<lb/>
färbten Radicalismus sahen. Kaum war aber der Frieden zum Abschluß<lb/>
gebracht, so steckten die Anhänger der beiden alten Monarchieen ihr Banner<lb/>
auf. Es begannen im Stillen einerseits die Bemühungen, die beiden Linien<lb/>
zu verschmelzen, andererseits die Intriguen, die den Kampf um die Staats¬<lb/>
form einleiten sollten, aber in überraschender Weise durch den leichtsinnig<lb/>
heraufbeschworenen Communistenaufstand unterbrochen wurden. Wir verzich¬<lb/>
ten hier darauf, die Masse der Aufständischen nach ihren Bestandtheilen zu<lb/>
zergliedern und die Fäden zu entwirren, die in der Commune zusammenliefen;<lb/>
für unseren Zweck genügt, die eine für die Beurtheilung der französischen<lb/>
Verhältnisse maßgebende Thatsache hervorzuheben, daß der Aufstand ur¬<lb/>
sprünglich den Charakter einer Reaction des hauptstädtischen centralisi-<lb/>
renden Radicalismus gegen die der Pariser Herrschaft überdrüßige Land¬<lb/>
bevölkerung an sich trug, und daß er nur nach und nach später, seinen<lb/>
ursprünglichen Triebfedern gerade entgegengesetzt, sich mit dem Banner der<lb/>
Communalfreiheit zu decken suchte, mit dem nicht bloß stillen, sondern ge¬<lb/>
legentlich klar genug angedeuteten Vorbehalte, auf dem Wege der Assimilirung<lb/>
aller übrigen Gemeinden zu der Centralisation der Staatsgewalt in der Hand<lb/>
der Pariser Bevölkerung zurückzukehren. Es war eine höchst seltsame, aber<lb/>
durch die Verhältnisse mit Nothwendigkeit herbeigeführte Verkehrung der Sach¬<lb/>
lage, daß Paris scheinbar für das Programm der DecentraUsation, die De¬<lb/>
partements für die Staatseinheit kämpften.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1047" next="#ID_1048"> Vielleicht wird sich später die Gelegenheit bieten, diese Verwirrung der<lb/>
Begriffe und Verhältnisse, sowie die theilweise erfolgte Klärung der Sachlage<lb/>
eingehender zu erörtern; hier, wo wir es nur mit der Entwickelung des Partei¬<lb/>
wesens zu thun haben, sei zunächst bemerkt, daß der Versuch, den Gegensatz<lb/>
des ländlichen und städtischen vierten Standes für monarchische Parteizwecke</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0340] die Beseitigung Gambetta's erst nach der Vernichtung aller Streitkräfte des Staates erfolgte, ist eben der schlagendste Beweis für das Uebergewicht der Hauptstadt über das ganze Land. Die Ueberzeugung von dem Wahnsinne des Widerstandes hatte die Gegner des Krieges nicht zu einer Friedenspartei zu vereinigen vermocht; erst mit dem Aufhören des Kampfes, in Folge der absoluten Unmöglichkeit, neue Streitmassen dem Feinde entgegenzustellen, brach die Kriegspartei in sich zusammen. Die Wahlen zur Nationalversammlung wurden in überwiegender Mehr¬ heit von der Landbevölkerung entschieden, die vor etwa einem Jahre Napo¬ leon ein so glänzendes Vertrauensvotum ertheilt hatte. Da aber die Wahl von Bonapartisten damals eine Unmöglichkeit war (wie sie es auch noch in diesem Augenblick ist), so griffen die „Bauern" auf die alten Parteien, die Bourbonisten und die Orleanisten zurück, jedoch nur, weil sie in ihnen ent¬ schiedene Gegner der Pariser Kriegspartei, des demokratischen, socialistisch ge¬ färbten Radicalismus sahen. Kaum war aber der Frieden zum Abschluß gebracht, so steckten die Anhänger der beiden alten Monarchieen ihr Banner auf. Es begannen im Stillen einerseits die Bemühungen, die beiden Linien zu verschmelzen, andererseits die Intriguen, die den Kampf um die Staats¬ form einleiten sollten, aber in überraschender Weise durch den leichtsinnig heraufbeschworenen Communistenaufstand unterbrochen wurden. Wir verzich¬ ten hier darauf, die Masse der Aufständischen nach ihren Bestandtheilen zu zergliedern und die Fäden zu entwirren, die in der Commune zusammenliefen; für unseren Zweck genügt, die eine für die Beurtheilung der französischen Verhältnisse maßgebende Thatsache hervorzuheben, daß der Aufstand ur¬ sprünglich den Charakter einer Reaction des hauptstädtischen centralisi- renden Radicalismus gegen die der Pariser Herrschaft überdrüßige Land¬ bevölkerung an sich trug, und daß er nur nach und nach später, seinen ursprünglichen Triebfedern gerade entgegengesetzt, sich mit dem Banner der Communalfreiheit zu decken suchte, mit dem nicht bloß stillen, sondern ge¬ legentlich klar genug angedeuteten Vorbehalte, auf dem Wege der Assimilirung aller übrigen Gemeinden zu der Centralisation der Staatsgewalt in der Hand der Pariser Bevölkerung zurückzukehren. Es war eine höchst seltsame, aber durch die Verhältnisse mit Nothwendigkeit herbeigeführte Verkehrung der Sach¬ lage, daß Paris scheinbar für das Programm der DecentraUsation, die De¬ partements für die Staatseinheit kämpften. Vielleicht wird sich später die Gelegenheit bieten, diese Verwirrung der Begriffe und Verhältnisse, sowie die theilweise erfolgte Klärung der Sachlage eingehender zu erörtern; hier, wo wir es nur mit der Entwickelung des Partei¬ wesens zu thun haben, sei zunächst bemerkt, daß der Versuch, den Gegensatz des ländlichen und städtischen vierten Standes für monarchische Parteizwecke

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/340
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/340>, abgerufen am 24.07.2024.