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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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garn seine Thätigkeit auf dem Boden festgegründeter staatlicher Zustände und
hatte von Anfang an nur die Aufgabe, für den gegebenen Stoff die rechtliche
Form zu schaffen. Für den Wahn parlamentarischer Omnipotenz, für Kämpfe
um Sein und Nichtsein der gesammten socialen Ordnung war kein Raum,
und es fehlte dadurch von selbst jener eigenthümliche Nervenreiz, welcher durch
die tägliche Bedrohung der Existenzbedingungen eine ganze Bevölkerung in
fortwährender Spannung zu erhalten vermag.

Im Gegentheil. Die unerhörten Erfolge der deutschen Heere, speciell
aber die Triumphe des am Ruder der deutschen Geschicke stehenden Staats¬
manns mußten zu einer Vergleichung dieser Leistungen mit den bisherigen
Versuchen, die Einigung der Nation auf parlamentarischem Weg herbeizu¬
führen, überhaupt zu einer Würdigung der wahren Bedeutung des ebenso
geräuschvollen als machtlosen Parlamentarismus der deutschen Kleinstaaten
führen, und hatten nothwendig in weiten Kreisen die Geringschätzung aller
blos auf die Macht des Worts gestützten Bestrebungen zur Folge. Nirgends
in Deutschland hat daher auch trotz der langjährigen demokratischen Bearbei¬
tung des Volkes der sog. "Bismarckcultus" so tiefe Wurzeln getrieben als
gerade in Schwaben, wo überdies die Zerfressenheit aller staatlichen Zustände
und die weit verbreitete politische Corruption einen Skepticismus erzeugt
hatte, aus welchem erst der Reichskanzler die Gemüther zum Glauben an die
politische Zukunft der Nation und ihrer Glieder und damit zum politischen
Selbstvertrauen wieder erweckt hatte. Diese Stimmung war dem Reichstag
nicht günstig. Bei jedem drohenden Conflicte stellte man sich unwillkürlich
auf die Seite des Reichskanzlers, der die Sache ja doch am Besten verstehe,
so namentlich zur Zeit der Spannung wegen der elsaß-lothringenschen Frage
und wegen des Bunsenschen Antrags. Man fand bei der ersteren keinen
greifbaren Anlaß zu der Amendirung der bundesräthlichen Vorlage, da man
keinen Grund hatte, der Neichsregierung Neigung zu leichtsinnigem Schulden¬
machen zu unterstellen, und man sich auch nicht zurecht zu legen ver¬
mochte, weshalb gegenüber der schrankenlosen Dictatur in allen Fragen der
persönlichen Freiheit und der Administration der Reichstag gerade die Auf¬
nahme von Anlehen seiner Controle allein unterworfen haben wollte. Auch
die Empfindlichkeit des Reichskanzlers gegen die Motive des Bunsenschen An¬
trags wußte man sich zu erklären. Hatten wir doch erst in den letzten
Jahren erlebt, daß, nachdem auf den Antrag der extremsten Demokratie der
Sold der Mannschaft erhöht worden war, die Bolkspartei diese Thatsache
bis unmittelbar vor dem Ausbruch des Kriegs als einen der brauchbarsten
Hebel zur Untergrabung der Mannszucht in der Caserne zu benutzen gewußt
hatte, indem man die Unzufriedenheit mit der Verpflegung fortwährend zu
steigern und dagegen die Demokratie als die wahre Beschützerin der Mann-


garn seine Thätigkeit auf dem Boden festgegründeter staatlicher Zustände und
hatte von Anfang an nur die Aufgabe, für den gegebenen Stoff die rechtliche
Form zu schaffen. Für den Wahn parlamentarischer Omnipotenz, für Kämpfe
um Sein und Nichtsein der gesammten socialen Ordnung war kein Raum,
und es fehlte dadurch von selbst jener eigenthümliche Nervenreiz, welcher durch
die tägliche Bedrohung der Existenzbedingungen eine ganze Bevölkerung in
fortwährender Spannung zu erhalten vermag.

Im Gegentheil. Die unerhörten Erfolge der deutschen Heere, speciell
aber die Triumphe des am Ruder der deutschen Geschicke stehenden Staats¬
manns mußten zu einer Vergleichung dieser Leistungen mit den bisherigen
Versuchen, die Einigung der Nation auf parlamentarischem Weg herbeizu¬
führen, überhaupt zu einer Würdigung der wahren Bedeutung des ebenso
geräuschvollen als machtlosen Parlamentarismus der deutschen Kleinstaaten
führen, und hatten nothwendig in weiten Kreisen die Geringschätzung aller
blos auf die Macht des Worts gestützten Bestrebungen zur Folge. Nirgends
in Deutschland hat daher auch trotz der langjährigen demokratischen Bearbei¬
tung des Volkes der sog. „Bismarckcultus" so tiefe Wurzeln getrieben als
gerade in Schwaben, wo überdies die Zerfressenheit aller staatlichen Zustände
und die weit verbreitete politische Corruption einen Skepticismus erzeugt
hatte, aus welchem erst der Reichskanzler die Gemüther zum Glauben an die
politische Zukunft der Nation und ihrer Glieder und damit zum politischen
Selbstvertrauen wieder erweckt hatte. Diese Stimmung war dem Reichstag
nicht günstig. Bei jedem drohenden Conflicte stellte man sich unwillkürlich
auf die Seite des Reichskanzlers, der die Sache ja doch am Besten verstehe,
so namentlich zur Zeit der Spannung wegen der elsaß-lothringenschen Frage
und wegen des Bunsenschen Antrags. Man fand bei der ersteren keinen
greifbaren Anlaß zu der Amendirung der bundesräthlichen Vorlage, da man
keinen Grund hatte, der Neichsregierung Neigung zu leichtsinnigem Schulden¬
machen zu unterstellen, und man sich auch nicht zurecht zu legen ver¬
mochte, weshalb gegenüber der schrankenlosen Dictatur in allen Fragen der
persönlichen Freiheit und der Administration der Reichstag gerade die Auf¬
nahme von Anlehen seiner Controle allein unterworfen haben wollte. Auch
die Empfindlichkeit des Reichskanzlers gegen die Motive des Bunsenschen An¬
trags wußte man sich zu erklären. Hatten wir doch erst in den letzten
Jahren erlebt, daß, nachdem auf den Antrag der extremsten Demokratie der
Sold der Mannschaft erhöht worden war, die Bolkspartei diese Thatsache
bis unmittelbar vor dem Ausbruch des Kriegs als einen der brauchbarsten
Hebel zur Untergrabung der Mannszucht in der Caserne zu benutzen gewußt
hatte, indem man die Unzufriedenheit mit der Verpflegung fortwährend zu
steigern und dagegen die Demokratie als die wahre Beschützerin der Mann-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/34>, abgerufen am 24.07.2024.