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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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den Abendröthe der Romantik verfallen, der Geschmack verwildert. Die glän¬
zenden äußern Erfolge einzelner Schriftsteller standen in keinem Verhältnisse
zu dem inneren Werthe ihrer Werke. Aber schon wär es dahin gekommen,
daß die Geltung und der Einfluß eines Schriftstellers nur noch von der Ge-
schicklichkeit, mit der er dem mehr und mehr sinkenden Geschmack sich anzu¬
bequemen wußte, abhängig war. So lange das Bürgerthum einer mäch¬
tigen Aristokratie eifersüchtig gegenüber gestanden, war dasselbe darauf an¬
gewiesen gewesen, durch das höchste Aufgebot seiner Kräfte seine Ueberlegen-
heit in beständigem Ringen zu bewähren. Ohne Nebenbuhler verfiel es zuletzt
der Mittelmäßigkeit, von wo denn der Weg zum Gemeinen, zum Entäußern
aller idealen Bestrebungen nicht weit war. Die Eigenschaften, auf die das
Bürgerthum seine Berechtigung begründet hatte, waren verloren gegangen.
Das politische Pflichtgefühl, auch in der Blütezeit des Constitutionalismus nur
schwach entwickelt, war ganz geschwunden, seit das Zunehmen des Materia¬
lismus in der gesammten Weltanschauung und Denkweise den rücksichtslosesten
persönlichsten Ehrgeiz oder die unersättlichste Gewinnsucht zur Triebfeder für
jeden Einzelnen gemacht hatte, seit die politischen Grundsätze zu einem Deck¬
mantel für die eigennützigsten Bestrebungen geworden waren. Wohl erhitzte
man sich und Andere durch die alten Schlagwörter, aber alle hohen Worte
waren doch weiter Nichts als Phrasen, an die der Redner selbst am wenig¬
sten glaubte, und die daher Niemanden zu selbstverleugnendem Mannesmuth
begeistern konnten. Beschränkte sich doch der Muth der Abgeordneten, welche
den Standpunkt des Bürgerthums zur Zeit des Staatsstreiches vertraten,
darauf, daß sie nur "der Gewalt wichen", d. h. daß sie nicht eher den Saal
verließen, als bis die Gendarmen den Präsidenten beim Arme gefaßt hatten.
Daß sie sich alsdann in theatralischen Aufzuge Arm in Arm zu Fuß nach
Fort Mazas führen ließen, wurde nur von ihnen selbst als erhabenes Mär-
tyrerthum gepriesen. Brutal so lange sie im Besitz der Macht waren, fron-
dirten sie, wenn ein Stärkerer die Zügel ergriffen hatte, streckten aber alsbald
die Waffen, wenn der Gegner, um dem Frondiren ein Ende zu machen, von
seinen eigenen Waffen Gebrauch machte.

Die von dem liberalen Bürgerthum getragenen Parteien waren also, bei
dem demoralisirten und geistig herabgekommenen Zustande dieser einst so
glänzenden Gesellschaftsschicht, dem Kaiser nur in so fern gefährlich, als ihre
Opposition eine gewisse Aufregung erhielt, welche die radicalen Parteiführer
benutzten, um das Proletariat, den vierten Stand, in eine revolutionäre
Stimmung zu versetzen. In den revolutionären Reizungen des Proletariats
aber erkannte Napoleon die eigentliche Gefahr für seine Herrschaft/ Daß er
viel gethan hat, um die arbeitenden Classen durch Verbesserung ihrer äußeren
Lage zu gewinnen, daß er ihnen gesunde Wohnungen zu verschaffen suchte,


den Abendröthe der Romantik verfallen, der Geschmack verwildert. Die glän¬
zenden äußern Erfolge einzelner Schriftsteller standen in keinem Verhältnisse
zu dem inneren Werthe ihrer Werke. Aber schon wär es dahin gekommen,
daß die Geltung und der Einfluß eines Schriftstellers nur noch von der Ge-
schicklichkeit, mit der er dem mehr und mehr sinkenden Geschmack sich anzu¬
bequemen wußte, abhängig war. So lange das Bürgerthum einer mäch¬
tigen Aristokratie eifersüchtig gegenüber gestanden, war dasselbe darauf an¬
gewiesen gewesen, durch das höchste Aufgebot seiner Kräfte seine Ueberlegen-
heit in beständigem Ringen zu bewähren. Ohne Nebenbuhler verfiel es zuletzt
der Mittelmäßigkeit, von wo denn der Weg zum Gemeinen, zum Entäußern
aller idealen Bestrebungen nicht weit war. Die Eigenschaften, auf die das
Bürgerthum seine Berechtigung begründet hatte, waren verloren gegangen.
Das politische Pflichtgefühl, auch in der Blütezeit des Constitutionalismus nur
schwach entwickelt, war ganz geschwunden, seit das Zunehmen des Materia¬
lismus in der gesammten Weltanschauung und Denkweise den rücksichtslosesten
persönlichsten Ehrgeiz oder die unersättlichste Gewinnsucht zur Triebfeder für
jeden Einzelnen gemacht hatte, seit die politischen Grundsätze zu einem Deck¬
mantel für die eigennützigsten Bestrebungen geworden waren. Wohl erhitzte
man sich und Andere durch die alten Schlagwörter, aber alle hohen Worte
waren doch weiter Nichts als Phrasen, an die der Redner selbst am wenig¬
sten glaubte, und die daher Niemanden zu selbstverleugnendem Mannesmuth
begeistern konnten. Beschränkte sich doch der Muth der Abgeordneten, welche
den Standpunkt des Bürgerthums zur Zeit des Staatsstreiches vertraten,
darauf, daß sie nur „der Gewalt wichen", d. h. daß sie nicht eher den Saal
verließen, als bis die Gendarmen den Präsidenten beim Arme gefaßt hatten.
Daß sie sich alsdann in theatralischen Aufzuge Arm in Arm zu Fuß nach
Fort Mazas führen ließen, wurde nur von ihnen selbst als erhabenes Mär-
tyrerthum gepriesen. Brutal so lange sie im Besitz der Macht waren, fron-
dirten sie, wenn ein Stärkerer die Zügel ergriffen hatte, streckten aber alsbald
die Waffen, wenn der Gegner, um dem Frondiren ein Ende zu machen, von
seinen eigenen Waffen Gebrauch machte.

Die von dem liberalen Bürgerthum getragenen Parteien waren also, bei
dem demoralisirten und geistig herabgekommenen Zustande dieser einst so
glänzenden Gesellschaftsschicht, dem Kaiser nur in so fern gefährlich, als ihre
Opposition eine gewisse Aufregung erhielt, welche die radicalen Parteiführer
benutzten, um das Proletariat, den vierten Stand, in eine revolutionäre
Stimmung zu versetzen. In den revolutionären Reizungen des Proletariats
aber erkannte Napoleon die eigentliche Gefahr für seine Herrschaft/ Daß er
viel gethan hat, um die arbeitenden Classen durch Verbesserung ihrer äußeren
Lage zu gewinnen, daß er ihnen gesunde Wohnungen zu verschaffen suchte,


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[0336] den Abendröthe der Romantik verfallen, der Geschmack verwildert. Die glän¬ zenden äußern Erfolge einzelner Schriftsteller standen in keinem Verhältnisse zu dem inneren Werthe ihrer Werke. Aber schon wär es dahin gekommen, daß die Geltung und der Einfluß eines Schriftstellers nur noch von der Ge- schicklichkeit, mit der er dem mehr und mehr sinkenden Geschmack sich anzu¬ bequemen wußte, abhängig war. So lange das Bürgerthum einer mäch¬ tigen Aristokratie eifersüchtig gegenüber gestanden, war dasselbe darauf an¬ gewiesen gewesen, durch das höchste Aufgebot seiner Kräfte seine Ueberlegen- heit in beständigem Ringen zu bewähren. Ohne Nebenbuhler verfiel es zuletzt der Mittelmäßigkeit, von wo denn der Weg zum Gemeinen, zum Entäußern aller idealen Bestrebungen nicht weit war. Die Eigenschaften, auf die das Bürgerthum seine Berechtigung begründet hatte, waren verloren gegangen. Das politische Pflichtgefühl, auch in der Blütezeit des Constitutionalismus nur schwach entwickelt, war ganz geschwunden, seit das Zunehmen des Materia¬ lismus in der gesammten Weltanschauung und Denkweise den rücksichtslosesten persönlichsten Ehrgeiz oder die unersättlichste Gewinnsucht zur Triebfeder für jeden Einzelnen gemacht hatte, seit die politischen Grundsätze zu einem Deck¬ mantel für die eigennützigsten Bestrebungen geworden waren. Wohl erhitzte man sich und Andere durch die alten Schlagwörter, aber alle hohen Worte waren doch weiter Nichts als Phrasen, an die der Redner selbst am wenig¬ sten glaubte, und die daher Niemanden zu selbstverleugnendem Mannesmuth begeistern konnten. Beschränkte sich doch der Muth der Abgeordneten, welche den Standpunkt des Bürgerthums zur Zeit des Staatsstreiches vertraten, darauf, daß sie nur „der Gewalt wichen", d. h. daß sie nicht eher den Saal verließen, als bis die Gendarmen den Präsidenten beim Arme gefaßt hatten. Daß sie sich alsdann in theatralischen Aufzuge Arm in Arm zu Fuß nach Fort Mazas führen ließen, wurde nur von ihnen selbst als erhabenes Mär- tyrerthum gepriesen. Brutal so lange sie im Besitz der Macht waren, fron- dirten sie, wenn ein Stärkerer die Zügel ergriffen hatte, streckten aber alsbald die Waffen, wenn der Gegner, um dem Frondiren ein Ende zu machen, von seinen eigenen Waffen Gebrauch machte. Die von dem liberalen Bürgerthum getragenen Parteien waren also, bei dem demoralisirten und geistig herabgekommenen Zustande dieser einst so glänzenden Gesellschaftsschicht, dem Kaiser nur in so fern gefährlich, als ihre Opposition eine gewisse Aufregung erhielt, welche die radicalen Parteiführer benutzten, um das Proletariat, den vierten Stand, in eine revolutionäre Stimmung zu versetzen. In den revolutionären Reizungen des Proletariats aber erkannte Napoleon die eigentliche Gefahr für seine Herrschaft/ Daß er viel gethan hat, um die arbeitenden Classen durch Verbesserung ihrer äußeren Lage zu gewinnen, daß er ihnen gesunde Wohnungen zu verschaffen suchte,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/336>, abgerufen am 04.07.2024.