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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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was aus unseren erst innerlich verfallenen, dann gesetzlich beseitigten, jetzt
nur noch traditionell fortvegitirenden Zünften werden wird, dazu wen¬
det er mit Unrecht die Methode der historischen Analogie an. Hier ange¬
wandt führt diese Methode höchstens zu einem gewissen Grade von Wahr¬
scheinlichkeit. Und das nicht einmal. Denn, wenn unsere Gewerkvereine je
zu Leben und Gesundheit gedeihen -- daß sie eine vollendetere Stufe der
Zünfte, oder eine Fortbildung, eine Modelung derselben nach den veränderten
Zeitverhältnissen seien, das wird man schon um deßwillen nicht annehmen
können, weil sie Vereinigungen von Gliedern eines ganz neuen, früher un-
gekannten Berufsstandes und weil sie Verbindungen sind, die mit den Zünf¬
ten nur gemein haben, was alle wirthschaftlichen Verbindungen mit einander
gemein haben, nämlich die Absicht und den Erfolg der Stärkung der Einzel¬
kraft durch Vergesellschaftung. Noch bedenklicher aber wäre, die Ge¬
werkvereine schon um deßwillen für gerechtfertigt und ihre allgemeine Ver¬
breitung für wünschbar zu erachten, weil in ihrer Entstehung auf englischem
Boden eine gewisse historische Consequenz nicht zu verkennen ist, *) Und end¬
lich -- wir wissen nicht, ob wir Angesichts des Brentano'schen Buches be¬
rechtigt sind, diese Warnung auszusprechen -- wäre es verkehrt, etwa die
Gewerkvereine für ein Universalmittel zur Lösung der sogenannten Arbeiter¬
frage, oder auch nur für ein bei uns für diesen Zweck ebenso mit wirksames
Mittel zu erklären, wie sie es in England werden dürften.

Nach diesen Vorbemerkungen, die uns unerläßlich schienen, um das Be¬
kenntniß der "Unbefangenheit", welches der Verf. auf S. XVII der Vorrede
ablegt, nicht etwa abzuschwächen, sondern in das rechte Licht zu stellen --
ganz unbefangen ist der Verf. gewiß bei der historischen Detailforschung vor¬
gegangen -- möge uns verstattet sein, den Lesern wenigstens in einigen
flüchtigen Strichen den Inhalt des lehrreichen und interessanten Buches selbst
vorzuführen. Vielleicht gelingt uns so, sie dazu zu bewegen, daß sie sich
den Genuß ebenfalls bereiten, welchen uns die Lectüre wenigstens mancher
Abschnitte des letzteren verschafft hat.

Brentano's vorliegendes Buch bildet den ersten Band eines Werkes über
"die Arbeitergilden der Gegenwart." Es enthält eine Einleitung mit einem
"Ueberblick über die Entwickelung des Gildewesens, besonders in England,"
und dann zwei Capitel, von denen das eine von der Entstehung des eng-



") Der Verf. verwahrt sich auf S. 90 gegen den Vorwurf dieser Folgerung, zieht sie aber
auf S. S1 doch. Ist es ein "historisches Gesetz," daß "bei Auflösung eines alten Systems
unter den durch diese Desorganisation Leidenden zum Zweck der Aufrechterhaltung von Unab¬
hängigkeit und geordneten Zuständen" Gilden entstehen, und stimmen die in England entstan¬
denen Gewerkvereine nach Form und Art mit den Gilden überein, so ist damit die Rechtfer¬
tigung der Gewerkvereine noch nicht gegeben, sondern nur ihre Entstehung historisch erklärt.

was aus unseren erst innerlich verfallenen, dann gesetzlich beseitigten, jetzt
nur noch traditionell fortvegitirenden Zünften werden wird, dazu wen¬
det er mit Unrecht die Methode der historischen Analogie an. Hier ange¬
wandt führt diese Methode höchstens zu einem gewissen Grade von Wahr¬
scheinlichkeit. Und das nicht einmal. Denn, wenn unsere Gewerkvereine je
zu Leben und Gesundheit gedeihen — daß sie eine vollendetere Stufe der
Zünfte, oder eine Fortbildung, eine Modelung derselben nach den veränderten
Zeitverhältnissen seien, das wird man schon um deßwillen nicht annehmen
können, weil sie Vereinigungen von Gliedern eines ganz neuen, früher un-
gekannten Berufsstandes und weil sie Verbindungen sind, die mit den Zünf¬
ten nur gemein haben, was alle wirthschaftlichen Verbindungen mit einander
gemein haben, nämlich die Absicht und den Erfolg der Stärkung der Einzel¬
kraft durch Vergesellschaftung. Noch bedenklicher aber wäre, die Ge¬
werkvereine schon um deßwillen für gerechtfertigt und ihre allgemeine Ver¬
breitung für wünschbar zu erachten, weil in ihrer Entstehung auf englischem
Boden eine gewisse historische Consequenz nicht zu verkennen ist, *) Und end¬
lich — wir wissen nicht, ob wir Angesichts des Brentano'schen Buches be¬
rechtigt sind, diese Warnung auszusprechen — wäre es verkehrt, etwa die
Gewerkvereine für ein Universalmittel zur Lösung der sogenannten Arbeiter¬
frage, oder auch nur für ein bei uns für diesen Zweck ebenso mit wirksames
Mittel zu erklären, wie sie es in England werden dürften.

Nach diesen Vorbemerkungen, die uns unerläßlich schienen, um das Be¬
kenntniß der „Unbefangenheit", welches der Verf. auf S. XVII der Vorrede
ablegt, nicht etwa abzuschwächen, sondern in das rechte Licht zu stellen —
ganz unbefangen ist der Verf. gewiß bei der historischen Detailforschung vor¬
gegangen — möge uns verstattet sein, den Lesern wenigstens in einigen
flüchtigen Strichen den Inhalt des lehrreichen und interessanten Buches selbst
vorzuführen. Vielleicht gelingt uns so, sie dazu zu bewegen, daß sie sich
den Genuß ebenfalls bereiten, welchen uns die Lectüre wenigstens mancher
Abschnitte des letzteren verschafft hat.

Brentano's vorliegendes Buch bildet den ersten Band eines Werkes über
„die Arbeitergilden der Gegenwart." Es enthält eine Einleitung mit einem
„Ueberblick über die Entwickelung des Gildewesens, besonders in England,"
und dann zwei Capitel, von denen das eine von der Entstehung des eng-



") Der Verf. verwahrt sich auf S. 90 gegen den Vorwurf dieser Folgerung, zieht sie aber
auf S. S1 doch. Ist es ein „historisches Gesetz," daß „bei Auflösung eines alten Systems
unter den durch diese Desorganisation Leidenden zum Zweck der Aufrechterhaltung von Unab¬
hängigkeit und geordneten Zuständen" Gilden entstehen, und stimmen die in England entstan¬
denen Gewerkvereine nach Form und Art mit den Gilden überein, so ist damit die Rechtfer¬
tigung der Gewerkvereine noch nicht gegeben, sondern nur ihre Entstehung historisch erklärt.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/310>, abgerufen am 24.07.2024.