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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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nicht an, auszusprechen: in Herder steckt ein gut Theil des deutschen Gelehr¬
ten-Dünkels, der unfähig macht, gerecht zu sein. "Der ganze französische Par¬
naß ist aus Spanien und Italien gestohlen." Das klingt ganz .schön und
ist doch nur eine Scheinwahrheit. Man könnte ebensogut den Götz eine Ent¬
lehnung aus Shakespeare schelten, man könnte mit mehr Recht der gesamm-
ten deutschen Literatur vorwerfen, daß sie aus den Anregungen und Mustern
von Borgängern und Nachbarn, bald der Italiener, bald der Franzosen, bald
der Engländer und der Alten beruhe.

Am deutlichsten verräth ! Herder seine Voreingenommenheit gegen die
Franzosen da, wo er sie persönlich beurtheilt. Ein unglückliches Beispiel
wieder giebt ihm den Muth, den National-Charakter zu verdammen. Das
wahrhaft Liebenswürdige der Franzosen, das unsre Soldaten auch in diesem
erbitterten Kriege so tausendfach anerkannt und gepriesen haben,--davon
haben wir keine Erwähnung in dem ganzen Reise-Journal gefunden. Herder
hat in Nantes den Besuch eines langweiligen Pinsels. Er schildert ihn und
fährt fort: "Und wirklich, an diesem Charakter war recht das Französische
zu sehen, was nichts als Gleißnerei und Schwäche ist. Seine Höf¬
lichkeit war xolitesse und Kormotöt", oft auswendig gelernt und in Worten.
--Seine Geschäftigkeit war leicht, aber auch um nichts: Briefe schreiben
wie Wasser; es waren aber auch gewässerte Briefe.--Seine Delikatesse
war todte Ordnung, z. E. Symmetrie auf dem Tische, oder Faulheit, seine
Ruhe Gedankenlosigkeit, sein Urtheil eine Versicherung voriger Jahre, über
die er weiter nicht dachte, sein Widerspruch oft der simpelste Gegensatz ohne
Umschweif und Gründe: kurz, bei allen guten Seiten die abgebrauchteste, ent-
fchlafenste menschliche Seele, die Gähnendes genug hatte, um zehn Andere
um sich einzuschläfern und gähnend zu machen." So sieht also unserm gräm¬
lichen Hypochonder "der rechte Franzose" aus!

Dem Mitgetheilten ganz entsprechend sind seine Bemerkungen über das
Theater. Er habe in den Theaterstücken, sagt er, Welt, Jahrhunderte, Na¬
tion gesucht und immer nur "französische Nation" gefunden. Er hätte
auch nichts weiter suchen sollen, muß man sagen. Er sucht vergebens "Mensch¬
heit," findet Künstlichkeit im Kleinen, nichts Großes, keine Simplicität ("der
wahre Ausdruck der Leidenschaft ist Simplicität" diese von Goethe gefaßte
Lehre läuft hier mit unter!), keinen menschlichen Ausdruck, keine Freude,
Zaire (vergl. Lessing) -- Galanterie, Tancred -- Chevalerie, aber nicht wahre,
Semiramis -- alles Pracht, Pomp fürs Auge u. s. w. "Ich habe ganze
Stücke gehört und keinen unarticulirten Schrei der Natur und Leidenschaft
gefunden, der natürlich wäre, Stücke gesehen und keine Bewegung, keinen
Tritt gesehen, der stumm gerührt hätte."

"Tragödie ist nicht sür Frankreich -- alles ist fremde Natur -- fremder


nicht an, auszusprechen: in Herder steckt ein gut Theil des deutschen Gelehr¬
ten-Dünkels, der unfähig macht, gerecht zu sein. „Der ganze französische Par¬
naß ist aus Spanien und Italien gestohlen." Das klingt ganz .schön und
ist doch nur eine Scheinwahrheit. Man könnte ebensogut den Götz eine Ent¬
lehnung aus Shakespeare schelten, man könnte mit mehr Recht der gesamm-
ten deutschen Literatur vorwerfen, daß sie aus den Anregungen und Mustern
von Borgängern und Nachbarn, bald der Italiener, bald der Franzosen, bald
der Engländer und der Alten beruhe.

Am deutlichsten verräth ! Herder seine Voreingenommenheit gegen die
Franzosen da, wo er sie persönlich beurtheilt. Ein unglückliches Beispiel
wieder giebt ihm den Muth, den National-Charakter zu verdammen. Das
wahrhaft Liebenswürdige der Franzosen, das unsre Soldaten auch in diesem
erbitterten Kriege so tausendfach anerkannt und gepriesen haben,--davon
haben wir keine Erwähnung in dem ganzen Reise-Journal gefunden. Herder
hat in Nantes den Besuch eines langweiligen Pinsels. Er schildert ihn und
fährt fort: „Und wirklich, an diesem Charakter war recht das Französische
zu sehen, was nichts als Gleißnerei und Schwäche ist. Seine Höf¬
lichkeit war xolitesse und Kormotöt«, oft auswendig gelernt und in Worten.
--Seine Geschäftigkeit war leicht, aber auch um nichts: Briefe schreiben
wie Wasser; es waren aber auch gewässerte Briefe.--Seine Delikatesse
war todte Ordnung, z. E. Symmetrie auf dem Tische, oder Faulheit, seine
Ruhe Gedankenlosigkeit, sein Urtheil eine Versicherung voriger Jahre, über
die er weiter nicht dachte, sein Widerspruch oft der simpelste Gegensatz ohne
Umschweif und Gründe: kurz, bei allen guten Seiten die abgebrauchteste, ent-
fchlafenste menschliche Seele, die Gähnendes genug hatte, um zehn Andere
um sich einzuschläfern und gähnend zu machen." So sieht also unserm gräm¬
lichen Hypochonder „der rechte Franzose" aus!

Dem Mitgetheilten ganz entsprechend sind seine Bemerkungen über das
Theater. Er habe in den Theaterstücken, sagt er, Welt, Jahrhunderte, Na¬
tion gesucht und immer nur „französische Nation" gefunden. Er hätte
auch nichts weiter suchen sollen, muß man sagen. Er sucht vergebens „Mensch¬
heit," findet Künstlichkeit im Kleinen, nichts Großes, keine Simplicität („der
wahre Ausdruck der Leidenschaft ist Simplicität" diese von Goethe gefaßte
Lehre läuft hier mit unter!), keinen menschlichen Ausdruck, keine Freude,
Zaire (vergl. Lessing) — Galanterie, Tancred — Chevalerie, aber nicht wahre,
Semiramis — alles Pracht, Pomp fürs Auge u. s. w. „Ich habe ganze
Stücke gehört und keinen unarticulirten Schrei der Natur und Leidenschaft
gefunden, der natürlich wäre, Stücke gesehen und keine Bewegung, keinen
Tritt gesehen, der stumm gerührt hätte."

„Tragödie ist nicht sür Frankreich — alles ist fremde Natur — fremder


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/267>, abgerufen am 24.07.2024.