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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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der Freiheit. Wir sagen nicht, daß der Zweck das Mittel heiligt, aber er
entschuldigt es.

Daß Frankreich keine Politiker hervorbringen könne, ist eine durch die
Geschichte, die Herder erlebte, zu deutlich widerlegte Ansicht. Herder erkannte
aber auch in den zum Theil großartigen Leistungen der Aufsätze der Ency¬
clopädie nichts als ein Zeichen der Auflösung. Er schweigt von d'Alembert
und seiner gewiß philosophischen Einleitung. Hören wir ihn über dieses
Werk, von dem man sagen kann, daß es die Revolution zwar nicht gemacht
oder auch nur gefördert, aber doch signalisirt habe, so möchte man an¬
nehmen, daß er es noch wenig kannte.

"In Frankreich wird man bald so weit sein: wenn die Voltaire und
Montesquieu todt sein werden, so wird man den Geist der Voltaire, Bossuet's,
Montesquieu, Racine u. s. w. so lange machen, bis nichts mehr da ist. Jetzt
macht man schon Encyclopädien: ein d'Alembert und Diderot lassen sich
dazu herunter, und eben dies Buch, was den Franzosen ihr Triumph
ist, ist für mich das erste Zeichen zu ihrem Verfall. Sie haben
nichts zu schreiben und machen also Abröges, Dictionaires, Histoires, Vocabu-
laires, Esprits, Encyclopädien u. s. w., die Originalwerke fallen weg." Es
ist, als wenn Herder seine eigene unglückliche Allerweltsbildungstendenz geißeln
wollte, die ihm allerdings schwere Stunden gemacht hat.

Es steht ihm als Dogma festj, einmal, die ganze französische Litteratur-
Epoche ist gemacht, zweitens: es ist aber jetzt gründlich aus damit. Und
auch in der vorübergegangenen ist nichts echtes, ursprüngliches, wahres, na¬
türliches, er sieht überall, und hier ist die Nachwirkung Lessings am deutlich¬
sten, Entlehnung, verzerrte Nachbildung, ein tÄux brillant, Esprit an Stelle
der Empfindung, Galanterie an der der Liebe, steife und frostige Grandezza
statt der wahren Anmuth. Wir begreifen das alles bei Lessing, der Frank¬
reich nicht sah, der, auch persönlich gegen Voltaire geneigt, und ausgehend
von dem erhobenen Anspruch, die classische Tragödie der Franzosen über¬
treffe die der Griechen, diesen, wie man in Berlin sagt, den Zahn auszog;
wir vermissen aber in Herder die Fähigkeit unbefangen zu sehen. Wäre auch
wirklich alles ohne Einschränkung wahr, wie ungerecht bleibt immer, ein Volk
nach vorübergehenden literarischen Leistungen allein zu charakterisiren! Stel¬
len wir uns vor, was für öde und geradezu widerliche Epochen unsere Litera¬
turgeschichte aufweist! Und wenn ein Franzose einmal aus der Natur unsrer Thea¬
ter von heute und gestern den Culturstand der Deutschen im Jahre 1869
oder 1870 constatiren wollte, müßten wir uns nicht die Augen aus dem
Kopfe schämen? Wo war da Eignes, echt Deutsches, wo war auch nur Gran¬
dezza und Feinheit, wo etwas anderes, als der feine Pariser Schlamm mit
berlinischen Sande zu gemeinsten Schmutz zusammengeknetet? Wir stehen


der Freiheit. Wir sagen nicht, daß der Zweck das Mittel heiligt, aber er
entschuldigt es.

Daß Frankreich keine Politiker hervorbringen könne, ist eine durch die
Geschichte, die Herder erlebte, zu deutlich widerlegte Ansicht. Herder erkannte
aber auch in den zum Theil großartigen Leistungen der Aufsätze der Ency¬
clopädie nichts als ein Zeichen der Auflösung. Er schweigt von d'Alembert
und seiner gewiß philosophischen Einleitung. Hören wir ihn über dieses
Werk, von dem man sagen kann, daß es die Revolution zwar nicht gemacht
oder auch nur gefördert, aber doch signalisirt habe, so möchte man an¬
nehmen, daß er es noch wenig kannte.

„In Frankreich wird man bald so weit sein: wenn die Voltaire und
Montesquieu todt sein werden, so wird man den Geist der Voltaire, Bossuet's,
Montesquieu, Racine u. s. w. so lange machen, bis nichts mehr da ist. Jetzt
macht man schon Encyclopädien: ein d'Alembert und Diderot lassen sich
dazu herunter, und eben dies Buch, was den Franzosen ihr Triumph
ist, ist für mich das erste Zeichen zu ihrem Verfall. Sie haben
nichts zu schreiben und machen also Abröges, Dictionaires, Histoires, Vocabu-
laires, Esprits, Encyclopädien u. s. w., die Originalwerke fallen weg." Es
ist, als wenn Herder seine eigene unglückliche Allerweltsbildungstendenz geißeln
wollte, die ihm allerdings schwere Stunden gemacht hat.

Es steht ihm als Dogma festj, einmal, die ganze französische Litteratur-
Epoche ist gemacht, zweitens: es ist aber jetzt gründlich aus damit. Und
auch in der vorübergegangenen ist nichts echtes, ursprüngliches, wahres, na¬
türliches, er sieht überall, und hier ist die Nachwirkung Lessings am deutlich¬
sten, Entlehnung, verzerrte Nachbildung, ein tÄux brillant, Esprit an Stelle
der Empfindung, Galanterie an der der Liebe, steife und frostige Grandezza
statt der wahren Anmuth. Wir begreifen das alles bei Lessing, der Frank¬
reich nicht sah, der, auch persönlich gegen Voltaire geneigt, und ausgehend
von dem erhobenen Anspruch, die classische Tragödie der Franzosen über¬
treffe die der Griechen, diesen, wie man in Berlin sagt, den Zahn auszog;
wir vermissen aber in Herder die Fähigkeit unbefangen zu sehen. Wäre auch
wirklich alles ohne Einschränkung wahr, wie ungerecht bleibt immer, ein Volk
nach vorübergehenden literarischen Leistungen allein zu charakterisiren! Stel¬
len wir uns vor, was für öde und geradezu widerliche Epochen unsere Litera¬
turgeschichte aufweist! Und wenn ein Franzose einmal aus der Natur unsrer Thea¬
ter von heute und gestern den Culturstand der Deutschen im Jahre 1869
oder 1870 constatiren wollte, müßten wir uns nicht die Augen aus dem
Kopfe schämen? Wo war da Eignes, echt Deutsches, wo war auch nur Gran¬
dezza und Feinheit, wo etwas anderes, als der feine Pariser Schlamm mit
berlinischen Sande zu gemeinsten Schmutz zusammengeknetet? Wir stehen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/266>, abgerufen am 24.07.2024.