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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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über den Miljutinschen Plan verlautet, ist darin freilich kaum irgend
etwas von den einzelnen Vorschlägen Fadejews aufgenommen, vielmehr enthält er
im Wesentlichen eine Nachbildung der preußischen Heeresverfassung, der auch
die Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht entnommen ist. Nur der Gedanke
ist beiden Entwürfen gemeinsam, daß durch Abkürzung der Präsenzzeit eine
größere Menge Soldaten ausgebildet werden sollen; aber Fadejew empfiehlt
als solche 3V-z, Miljutin 5--6 Jahre. Die Dienstzeit bleibt die seit 185V
eingeführte, 16 Jahre. Die von den Fahnen entlassenen Mannschaften sollen
bei der Mobilmachung nicht, wie Fadejew will, zu ihren Linienregimentern, sondern
zu besonderen Reserveregimentern, welche der preußischen Landwehr entsprechen,
einberufen werden. Eine Prüfung bleibt die Bedingung zur Beförderung des
Unteroffieiers zum Officier, nur soll die vorgeschriebene Dienstzeit vor dieser
Beförderung abgekürzt werden. Stellvertretung und Loskauf wird aufgehoben,
während Fadejew das bisherige französische System empfiehlt, wonach die
Regierung einen ausgedienter Soldaten als Einsteher stellt und annimmt, nicht
daß ihn, wie bisher in Rußland, der Dienstpflichtige unter den nicht ver¬
pflichteten Leuten aussucht und bezahlt. /

Hiermit schließen wir den Bericht über das russische Heerwesen und die
Umgestaltungspläne für dasselbe und fügen nur noch kurz unser Gutachten
darüber, was Europa und namentlich Deutschland davon zu befürchten
hat, hinzu.

Im Ganzen sind wir der Ueberzeugung, daß der Westen unbesorgt sein
darf; er kann bestimmt darauf rechnen, daß die große Ueberlegenheit seiner
Cultur sich, wie auf den Gebieten der Industrie, Kunst und Wissenschaft,
auch auf den blutigen Wahlplätzen der Waffen geltend machen muß; nur
darf man nicht sorglos die Hände in den Schoß legen. Man hat gewöhnlich
keine richtige Vorstellung von der Macht der höheren Cultur; man meint
wohl, daß unter ihr die Kräfte des Körpers leiden, die im Kriege allerdings
stark in Betracht kommen. In der Wirklichkeit dürfte sich diese Ansicht nur
in beschränktem Maße bewähren, namentlich bei den Gelehrten, Schriftstellern
u. f. w., welche durch ihre sitzende Lebensweise von Kräften und Gesundheit
kommen, nicht aber im Allgemeinen bei ganzen Völkern, vielmehr muß bei
ihnen die höher entwickelte Einsicht in die eigne und die äußere Natur auch
eine richtigere Behandlung der Gesundheit und somit eine Förderung der
Körperkräfte herbeiführen. Möglich ist zwar, daß, wenn man einem Durch¬
schnittsrussen und einem Durchschnittsdeutschen einen Sack mit drei Scheffeln
Korn vorsetzt, der erste ihn mit größerer Leichtigkeit auf seine Schultern nimmt
und drei Treppen hoch trägt als der zweite -- obwohl auch das zweifelhaft
ist. -- Sollen sie aber zusammen dreschen oder mit Gepäck marschiren oder
gar um die Wette lausen, so wird der Russe sicher zurückbleiben. Sie werden


über den Miljutinschen Plan verlautet, ist darin freilich kaum irgend
etwas von den einzelnen Vorschlägen Fadejews aufgenommen, vielmehr enthält er
im Wesentlichen eine Nachbildung der preußischen Heeresverfassung, der auch
die Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht entnommen ist. Nur der Gedanke
ist beiden Entwürfen gemeinsam, daß durch Abkürzung der Präsenzzeit eine
größere Menge Soldaten ausgebildet werden sollen; aber Fadejew empfiehlt
als solche 3V-z, Miljutin 5—6 Jahre. Die Dienstzeit bleibt die seit 185V
eingeführte, 16 Jahre. Die von den Fahnen entlassenen Mannschaften sollen
bei der Mobilmachung nicht, wie Fadejew will, zu ihren Linienregimentern, sondern
zu besonderen Reserveregimentern, welche der preußischen Landwehr entsprechen,
einberufen werden. Eine Prüfung bleibt die Bedingung zur Beförderung des
Unteroffieiers zum Officier, nur soll die vorgeschriebene Dienstzeit vor dieser
Beförderung abgekürzt werden. Stellvertretung und Loskauf wird aufgehoben,
während Fadejew das bisherige französische System empfiehlt, wonach die
Regierung einen ausgedienter Soldaten als Einsteher stellt und annimmt, nicht
daß ihn, wie bisher in Rußland, der Dienstpflichtige unter den nicht ver¬
pflichteten Leuten aussucht und bezahlt. /

Hiermit schließen wir den Bericht über das russische Heerwesen und die
Umgestaltungspläne für dasselbe und fügen nur noch kurz unser Gutachten
darüber, was Europa und namentlich Deutschland davon zu befürchten
hat, hinzu.

Im Ganzen sind wir der Ueberzeugung, daß der Westen unbesorgt sein
darf; er kann bestimmt darauf rechnen, daß die große Ueberlegenheit seiner
Cultur sich, wie auf den Gebieten der Industrie, Kunst und Wissenschaft,
auch auf den blutigen Wahlplätzen der Waffen geltend machen muß; nur
darf man nicht sorglos die Hände in den Schoß legen. Man hat gewöhnlich
keine richtige Vorstellung von der Macht der höheren Cultur; man meint
wohl, daß unter ihr die Kräfte des Körpers leiden, die im Kriege allerdings
stark in Betracht kommen. In der Wirklichkeit dürfte sich diese Ansicht nur
in beschränktem Maße bewähren, namentlich bei den Gelehrten, Schriftstellern
u. f. w., welche durch ihre sitzende Lebensweise von Kräften und Gesundheit
kommen, nicht aber im Allgemeinen bei ganzen Völkern, vielmehr muß bei
ihnen die höher entwickelte Einsicht in die eigne und die äußere Natur auch
eine richtigere Behandlung der Gesundheit und somit eine Förderung der
Körperkräfte herbeiführen. Möglich ist zwar, daß, wenn man einem Durch¬
schnittsrussen und einem Durchschnittsdeutschen einen Sack mit drei Scheffeln
Korn vorsetzt, der erste ihn mit größerer Leichtigkeit auf seine Schultern nimmt
und drei Treppen hoch trägt als der zweite — obwohl auch das zweifelhaft
ist. — Sollen sie aber zusammen dreschen oder mit Gepäck marschiren oder
gar um die Wette lausen, so wird der Russe sicher zurückbleiben. Sie werden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/260>, abgerufen am 24.07.2024.