Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

spräche in dieser Aeußerung auf; so viel bestätigen wir, daß Europa, bei
aller sonstigen Spaltung und Gegensätzlichkeit im Inneren, einig ist in der
Fremdheit und dem Mißtrauen gegen Rußland. Wir erachten Europa zu
dieser Gesinnung auch berechtigt; es wird von Rußland so lange feindlich
geschieden bleiben, als seine Heiligthümer und Ideale dort gering geschätzt,
als Freiheit, Wahrheit, Treue, die theuersten Menschenrechte dort verachtet,
dagegen brutale Gewalt, knechtische Unterwürfigkeit, Lug und Trug hoch ge¬
halten, und Bilder, Gewänder, Gebäude. Städte, Flüsse als Heiligthümer
verehrt werden. Neben den Magyaren haben wir am meisten von Rußland
zu fürchten: wir sind seine nächsten Nachbarn; Lüsternheit auf deutsche Ge¬
biete, besonders auf Ostpreußen, hat es seit Peter d. Gr. wiederholt bewiesen.
Auch während unseres letzten schweren Kampfes im Westen haben
nicht blos die Moskaner Zeitung und ihre Gesinnungsgenossen "Entschädi¬
gungen" für unsere Machterweiterung verlangt, bestehend in Landabtretungen
an der Ostsee, sondern auch offenkundige Regierungsorgane, wie der "Gerichts¬
bote", haben diese Forderung gestellt. Wenn Rußland uns nichts desto
weniger eine wohlwollende Neutralität bewahrt, so verdanken wir das aus¬
schließlich dem Kaiser Alexander, welcher jeden Tag den Thron einem Nach¬
folger räumen kann, der gegen die Willenskundgebungen des Volkes nachgie¬
biger ist, als er. Wir haben auch am meisten von Rußland zu fürchten,
weil dessen strategische Grenze nirgends so vortheilhaft ist, als gegen uns,
wobei zu bemerken, daß sie durch Besitznahme früher preußischer Provinzen
auf dem Wiener Congreß gegen die eifrigen Bemühungen unserer Staats¬
männer erworben ist. Nicht einmal die Prosnalinie wurde uns gegönnt;
mit Kalisch schob das Slawenreich noch über sie hinaus einen Fuß in unsere
Weichen.

Unter solchen Umständen haben wir Deutsche dringende Veranlassung,
unablässig ein aufmerksames Auge auf die Heereseinrichtungen und Kriegs¬
vorbereitungen unseres östlichen Nachbaren zu haben, der sich in seiner vor¬
lauten Presse selbst immerwährend als unseren nächsten Gegner ankündigt.
An der Hand Fadejews können wir tiefe Blicke in beides thun, zugleich auch
in die militärisch-politischen Anschauungen, welche in den höchsten militärischen
Kreisen Rußlands herrschen, denn der General hat längere Zeit in der Um¬
gebung des Kaisers gelebt, und ist der Vertraute des angesehensten russischen
Heerführers, des Feldmarschalls Fürsten Barjatinsky.

So finden wir denn, daß man dort zwar bedauert: das "unverbrüchliche
Bündniß" (besser die Abhängigkeit) Preußens, welches "die Hälfte unserer
westlichen Grenzen deckte", sowie "die ausschließliche Stellung am baltischen
Meere" seit 1866 eingebüßt zu haben; im übrigen aber hielt man zur Zeit
der Abfassung des Buches, also vor dem französischen Krieg, nicht sonderlich


spräche in dieser Aeußerung auf; so viel bestätigen wir, daß Europa, bei
aller sonstigen Spaltung und Gegensätzlichkeit im Inneren, einig ist in der
Fremdheit und dem Mißtrauen gegen Rußland. Wir erachten Europa zu
dieser Gesinnung auch berechtigt; es wird von Rußland so lange feindlich
geschieden bleiben, als seine Heiligthümer und Ideale dort gering geschätzt,
als Freiheit, Wahrheit, Treue, die theuersten Menschenrechte dort verachtet,
dagegen brutale Gewalt, knechtische Unterwürfigkeit, Lug und Trug hoch ge¬
halten, und Bilder, Gewänder, Gebäude. Städte, Flüsse als Heiligthümer
verehrt werden. Neben den Magyaren haben wir am meisten von Rußland
zu fürchten: wir sind seine nächsten Nachbarn; Lüsternheit auf deutsche Ge¬
biete, besonders auf Ostpreußen, hat es seit Peter d. Gr. wiederholt bewiesen.
Auch während unseres letzten schweren Kampfes im Westen haben
nicht blos die Moskaner Zeitung und ihre Gesinnungsgenossen „Entschädi¬
gungen" für unsere Machterweiterung verlangt, bestehend in Landabtretungen
an der Ostsee, sondern auch offenkundige Regierungsorgane, wie der „Gerichts¬
bote", haben diese Forderung gestellt. Wenn Rußland uns nichts desto
weniger eine wohlwollende Neutralität bewahrt, so verdanken wir das aus¬
schließlich dem Kaiser Alexander, welcher jeden Tag den Thron einem Nach¬
folger räumen kann, der gegen die Willenskundgebungen des Volkes nachgie¬
biger ist, als er. Wir haben auch am meisten von Rußland zu fürchten,
weil dessen strategische Grenze nirgends so vortheilhaft ist, als gegen uns,
wobei zu bemerken, daß sie durch Besitznahme früher preußischer Provinzen
auf dem Wiener Congreß gegen die eifrigen Bemühungen unserer Staats¬
männer erworben ist. Nicht einmal die Prosnalinie wurde uns gegönnt;
mit Kalisch schob das Slawenreich noch über sie hinaus einen Fuß in unsere
Weichen.

Unter solchen Umständen haben wir Deutsche dringende Veranlassung,
unablässig ein aufmerksames Auge auf die Heereseinrichtungen und Kriegs¬
vorbereitungen unseres östlichen Nachbaren zu haben, der sich in seiner vor¬
lauten Presse selbst immerwährend als unseren nächsten Gegner ankündigt.
An der Hand Fadejews können wir tiefe Blicke in beides thun, zugleich auch
in die militärisch-politischen Anschauungen, welche in den höchsten militärischen
Kreisen Rußlands herrschen, denn der General hat längere Zeit in der Um¬
gebung des Kaisers gelebt, und ist der Vertraute des angesehensten russischen
Heerführers, des Feldmarschalls Fürsten Barjatinsky.

So finden wir denn, daß man dort zwar bedauert: das „unverbrüchliche
Bündniß" (besser die Abhängigkeit) Preußens, welches „die Hälfte unserer
westlichen Grenzen deckte", sowie „die ausschließliche Stellung am baltischen
Meere" seit 1866 eingebüßt zu haben; im übrigen aber hielt man zur Zeit
der Abfassung des Buches, also vor dem französischen Krieg, nicht sonderlich


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0250" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/126526"/>
          <p xml:id="ID_784" prev="#ID_783"> spräche in dieser Aeußerung auf; so viel bestätigen wir, daß Europa, bei<lb/>
aller sonstigen Spaltung und Gegensätzlichkeit im Inneren, einig ist in der<lb/>
Fremdheit und dem Mißtrauen gegen Rußland. Wir erachten Europa zu<lb/>
dieser Gesinnung auch berechtigt; es wird von Rußland so lange feindlich<lb/>
geschieden bleiben, als seine Heiligthümer und Ideale dort gering geschätzt,<lb/>
als Freiheit, Wahrheit, Treue, die theuersten Menschenrechte dort verachtet,<lb/>
dagegen brutale Gewalt, knechtische Unterwürfigkeit, Lug und Trug hoch ge¬<lb/>
halten, und Bilder, Gewänder, Gebäude. Städte, Flüsse als Heiligthümer<lb/>
verehrt werden. Neben den Magyaren haben wir am meisten von Rußland<lb/>
zu fürchten: wir sind seine nächsten Nachbarn; Lüsternheit auf deutsche Ge¬<lb/>
biete, besonders auf Ostpreußen, hat es seit Peter d. Gr. wiederholt bewiesen.<lb/>
Auch während unseres letzten schweren Kampfes im Westen haben<lb/>
nicht blos die Moskaner Zeitung und ihre Gesinnungsgenossen &#x201E;Entschädi¬<lb/>
gungen" für unsere Machterweiterung verlangt, bestehend in Landabtretungen<lb/>
an der Ostsee, sondern auch offenkundige Regierungsorgane, wie der &#x201E;Gerichts¬<lb/>
bote", haben diese Forderung gestellt. Wenn Rußland uns nichts desto<lb/>
weniger eine wohlwollende Neutralität bewahrt, so verdanken wir das aus¬<lb/>
schließlich dem Kaiser Alexander, welcher jeden Tag den Thron einem Nach¬<lb/>
folger räumen kann, der gegen die Willenskundgebungen des Volkes nachgie¬<lb/>
biger ist, als er. Wir haben auch am meisten von Rußland zu fürchten,<lb/>
weil dessen strategische Grenze nirgends so vortheilhaft ist, als gegen uns,<lb/>
wobei zu bemerken, daß sie durch Besitznahme früher preußischer Provinzen<lb/>
auf dem Wiener Congreß gegen die eifrigen Bemühungen unserer Staats¬<lb/>
männer erworben ist. Nicht einmal die Prosnalinie wurde uns gegönnt;<lb/>
mit Kalisch schob das Slawenreich noch über sie hinaus einen Fuß in unsere<lb/>
Weichen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_785"> Unter solchen Umständen haben wir Deutsche dringende Veranlassung,<lb/>
unablässig ein aufmerksames Auge auf die Heereseinrichtungen und Kriegs¬<lb/>
vorbereitungen unseres östlichen Nachbaren zu haben, der sich in seiner vor¬<lb/>
lauten Presse selbst immerwährend als unseren nächsten Gegner ankündigt.<lb/>
An der Hand Fadejews können wir tiefe Blicke in beides thun, zugleich auch<lb/>
in die militärisch-politischen Anschauungen, welche in den höchsten militärischen<lb/>
Kreisen Rußlands herrschen, denn der General hat längere Zeit in der Um¬<lb/>
gebung des Kaisers gelebt, und ist der Vertraute des angesehensten russischen<lb/>
Heerführers, des Feldmarschalls Fürsten Barjatinsky.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_786" next="#ID_787"> So finden wir denn, daß man dort zwar bedauert: das &#x201E;unverbrüchliche<lb/>
Bündniß" (besser die Abhängigkeit) Preußens, welches &#x201E;die Hälfte unserer<lb/>
westlichen Grenzen deckte", sowie &#x201E;die ausschließliche Stellung am baltischen<lb/>
Meere" seit 1866 eingebüßt zu haben; im übrigen aber hielt man zur Zeit<lb/>
der Abfassung des Buches, also vor dem französischen Krieg, nicht sonderlich</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0250] spräche in dieser Aeußerung auf; so viel bestätigen wir, daß Europa, bei aller sonstigen Spaltung und Gegensätzlichkeit im Inneren, einig ist in der Fremdheit und dem Mißtrauen gegen Rußland. Wir erachten Europa zu dieser Gesinnung auch berechtigt; es wird von Rußland so lange feindlich geschieden bleiben, als seine Heiligthümer und Ideale dort gering geschätzt, als Freiheit, Wahrheit, Treue, die theuersten Menschenrechte dort verachtet, dagegen brutale Gewalt, knechtische Unterwürfigkeit, Lug und Trug hoch ge¬ halten, und Bilder, Gewänder, Gebäude. Städte, Flüsse als Heiligthümer verehrt werden. Neben den Magyaren haben wir am meisten von Rußland zu fürchten: wir sind seine nächsten Nachbarn; Lüsternheit auf deutsche Ge¬ biete, besonders auf Ostpreußen, hat es seit Peter d. Gr. wiederholt bewiesen. Auch während unseres letzten schweren Kampfes im Westen haben nicht blos die Moskaner Zeitung und ihre Gesinnungsgenossen „Entschädi¬ gungen" für unsere Machterweiterung verlangt, bestehend in Landabtretungen an der Ostsee, sondern auch offenkundige Regierungsorgane, wie der „Gerichts¬ bote", haben diese Forderung gestellt. Wenn Rußland uns nichts desto weniger eine wohlwollende Neutralität bewahrt, so verdanken wir das aus¬ schließlich dem Kaiser Alexander, welcher jeden Tag den Thron einem Nach¬ folger räumen kann, der gegen die Willenskundgebungen des Volkes nachgie¬ biger ist, als er. Wir haben auch am meisten von Rußland zu fürchten, weil dessen strategische Grenze nirgends so vortheilhaft ist, als gegen uns, wobei zu bemerken, daß sie durch Besitznahme früher preußischer Provinzen auf dem Wiener Congreß gegen die eifrigen Bemühungen unserer Staats¬ männer erworben ist. Nicht einmal die Prosnalinie wurde uns gegönnt; mit Kalisch schob das Slawenreich noch über sie hinaus einen Fuß in unsere Weichen. Unter solchen Umständen haben wir Deutsche dringende Veranlassung, unablässig ein aufmerksames Auge auf die Heereseinrichtungen und Kriegs¬ vorbereitungen unseres östlichen Nachbaren zu haben, der sich in seiner vor¬ lauten Presse selbst immerwährend als unseren nächsten Gegner ankündigt. An der Hand Fadejews können wir tiefe Blicke in beides thun, zugleich auch in die militärisch-politischen Anschauungen, welche in den höchsten militärischen Kreisen Rußlands herrschen, denn der General hat längere Zeit in der Um¬ gebung des Kaisers gelebt, und ist der Vertraute des angesehensten russischen Heerführers, des Feldmarschalls Fürsten Barjatinsky. So finden wir denn, daß man dort zwar bedauert: das „unverbrüchliche Bündniß" (besser die Abhängigkeit) Preußens, welches „die Hälfte unserer westlichen Grenzen deckte", sowie „die ausschließliche Stellung am baltischen Meere" seit 1866 eingebüßt zu haben; im übrigen aber hielt man zur Zeit der Abfassung des Buches, also vor dem französischen Krieg, nicht sonderlich

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/250
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/250>, abgerufen am 24.07.2024.