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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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mokraten Oesterlen, in welcher er von dem Ministerium allgemeine Rechenschaft
über sämmtliche Abstimmungen im Bundesrat!) verlangte, offenbar um bei
dieser Gelegenheit die Thätigkeit der Organe des Reichs einer Superrevision
vor dem Forum des württembergischen Landtags zu unterwerfen. Dem An¬
tragsteller mochte hierbei jene Commission vor Augen schweben, welche das
Ministerium noch vor 1^ Jahren zusammenberufen hatte, um das jetzt
deutsche Strafgesetzbuch durch eine Anzahl höher erleuchteter schwäbischer
Praktiker, daunter namentlich die Zollschwaben Becher und Probst, revidiren
zu lassen, eine Commission, deren Leistungen nur durch den Kriegsausbruch
in ewiges Dunkel gehüllt worden sind. In erster Linie war es natürlich
darauf abgesehen, dem Minister von Mittnacht, dessen besonderes Vertrauen
Oesterlen früher genossen, indem er ihm vor dem Jahr 1870 als Vermittler
zwischen der äußersten Demokratie gedient hatte, Verlegenheiten zu bereiten.
Allein Herr von Mittnacht wies das Ansinnen mit ebenso schlagenden Grün¬
den als beißender Ironie zurück, indem er die bei der Genehmigung der
Versailler Verträge der Ständekammer gemachten Zugeständnisse dahin näher
präeisirte, daß die Regierung nicht verpflichtet sei. eine allgemeine Rechen¬
schaft über ihre Thätigkeit im Bundesrath abzulegen, sie vielmehr nur eine Ver¬
antwortlichkeit des Ministeriums im einzelnen Fall anerkenne. Die Stimm¬
führung im Bundesrath, welcher großen Werth darauf lege, seine weitaus
meisten Beschlüsse einstimmig zu fassen, sei, namentlich was die Vorberathungen
betreffe, eine Art diplomatischer Thätigkeit, man könne daher mit Rücksicht
aus die anderen Regierungen der Ständekammer einen vollen Einblick nicht
gestatten. Dennoch wünscht der Minister die Einführung öffentlicher Verhand¬
lungen im Bundesrath, um so mehr als selbst in Fällen, wo man den ver¬
traulichen Charakter besonders premirt habe, die Sache doch schon am nächsten
Tag haarklein in den norddeutschen Zeitungen berichtet worden sei, welche
überhaupt stets aufs schnellste und genaueste von den Verhandlungen unter¬
richtet seien. Gleichwohl fand hierbei der Redner Anlaß, seine Geringschätzung
der Tagespresse neuerdings zu constatiren, und zugleich den Preußischen Jahr¬
büchern ein offenbar längst beabsichtigtes "formellstes Dementi" vor
ganz Deutschland zu ertheilen. Letztere hätten nämlich in einem Artikel über
die Versailler Verträge von November v. I. behauptet, die württembergischen
Bevollmächtigten hätten am 13. November in Versailles plötzlich den Versuch
gemacht, die Verhandlungen auf ganz neue Basis zu stellen, der Bundes¬
kanzler aber habe diese Zumuthung kurzer Hand zurückgewiesen. Diese Nach¬
richt sei bereits Geschichte geworden, indem der neueste Schultheßische Ge¬
schichtskalender unter dem "13. November Abends" diesen Vorgang berichte.
An der ganzen Sache sei nun aber, wie der Minister aufs bestimmteste con¬
statiren zu müssen glaubt, kein wahres Wort. >


mokraten Oesterlen, in welcher er von dem Ministerium allgemeine Rechenschaft
über sämmtliche Abstimmungen im Bundesrat!) verlangte, offenbar um bei
dieser Gelegenheit die Thätigkeit der Organe des Reichs einer Superrevision
vor dem Forum des württembergischen Landtags zu unterwerfen. Dem An¬
tragsteller mochte hierbei jene Commission vor Augen schweben, welche das
Ministerium noch vor 1^ Jahren zusammenberufen hatte, um das jetzt
deutsche Strafgesetzbuch durch eine Anzahl höher erleuchteter schwäbischer
Praktiker, daunter namentlich die Zollschwaben Becher und Probst, revidiren
zu lassen, eine Commission, deren Leistungen nur durch den Kriegsausbruch
in ewiges Dunkel gehüllt worden sind. In erster Linie war es natürlich
darauf abgesehen, dem Minister von Mittnacht, dessen besonderes Vertrauen
Oesterlen früher genossen, indem er ihm vor dem Jahr 1870 als Vermittler
zwischen der äußersten Demokratie gedient hatte, Verlegenheiten zu bereiten.
Allein Herr von Mittnacht wies das Ansinnen mit ebenso schlagenden Grün¬
den als beißender Ironie zurück, indem er die bei der Genehmigung der
Versailler Verträge der Ständekammer gemachten Zugeständnisse dahin näher
präeisirte, daß die Regierung nicht verpflichtet sei. eine allgemeine Rechen¬
schaft über ihre Thätigkeit im Bundesrath abzulegen, sie vielmehr nur eine Ver¬
antwortlichkeit des Ministeriums im einzelnen Fall anerkenne. Die Stimm¬
führung im Bundesrath, welcher großen Werth darauf lege, seine weitaus
meisten Beschlüsse einstimmig zu fassen, sei, namentlich was die Vorberathungen
betreffe, eine Art diplomatischer Thätigkeit, man könne daher mit Rücksicht
aus die anderen Regierungen der Ständekammer einen vollen Einblick nicht
gestatten. Dennoch wünscht der Minister die Einführung öffentlicher Verhand¬
lungen im Bundesrath, um so mehr als selbst in Fällen, wo man den ver¬
traulichen Charakter besonders premirt habe, die Sache doch schon am nächsten
Tag haarklein in den norddeutschen Zeitungen berichtet worden sei, welche
überhaupt stets aufs schnellste und genaueste von den Verhandlungen unter¬
richtet seien. Gleichwohl fand hierbei der Redner Anlaß, seine Geringschätzung
der Tagespresse neuerdings zu constatiren, und zugleich den Preußischen Jahr¬
büchern ein offenbar längst beabsichtigtes „formellstes Dementi" vor
ganz Deutschland zu ertheilen. Letztere hätten nämlich in einem Artikel über
die Versailler Verträge von November v. I. behauptet, die württembergischen
Bevollmächtigten hätten am 13. November in Versailles plötzlich den Versuch
gemacht, die Verhandlungen auf ganz neue Basis zu stellen, der Bundes¬
kanzler aber habe diese Zumuthung kurzer Hand zurückgewiesen. Diese Nach¬
richt sei bereits Geschichte geworden, indem der neueste Schultheßische Ge¬
schichtskalender unter dem „13. November Abends" diesen Vorgang berichte.
An der ganzen Sache sei nun aber, wie der Minister aufs bestimmteste con¬
statiren zu müssen glaubt, kein wahres Wort. >


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/238>, abgerufen am 24.07.2024.