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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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durch seine eifrige Theilnahme an der Coalition von 1838 das üble Beispiel
gegeben hatte: sie folgten nur den Eingebungen des Parteihasses, verbanden
sich mit Socialisten, Republikanern und Legitimisten, um den verhaßten Mi¬
nister zu stürzen, und das Resultat dieser verwerflichen Coalition war die
Februarrevolution von 1848, die, aus ungesunden Parteiverhältnissen hervorge¬
gangen, die Elemente, die bisher nur durch wenige parlamentarische Wort¬
führer im officiellen Frankreich Eingang gefunden hatte, rasch emporschnellte
und die alten Parteien in den Hintergrund drängte. Socialismus, Bona¬
partismus, Ultramontanismus, das sind die Factoren, deren Wechselbeziehun¬
gen nach der Februarrevolution über das Schicksal Frankreichs bestimmen.
Die alten Parteien, gemäßigte Republikaner wie Monarchisten, werden in die
Defensive gedrängt: erst die Abnutzung des Kaiserthums führt sie auf die
Bühne zurück, und kaum berechtigt ihr schwaches, unsicheres und zugleich
tumultuarisches Auftreten dem sinkenden Bonapartismus gegenüber zu dem
Glauben, daß sie geläutert hervorgegangen sind aus der Zeit der Prüfung,
auf die wir im folgenden Artikel einen Blick werfen wollen.




Wilhelm Jordan's Kibelunge.
(Schluß.)

Es braucht nicht erst ausgeführt zu werden, daß Jordan alle Gestalten
der alten Dichtung erst zu wirklichen Menschen gemacht hat, indem er die¬
selben aus dem nebelhaften, schattenähnlichen Zustande, in dem sie in der
mittelalterlichen Dichtung zum Theil wenigstens erscheinen, erlöst und ihr
Thun und Lassen psychologisch begründet hat. Denn erst solche psychologische
Begründung läßt uns einen Charakter als einen wahrhaft menschlichen be¬
greifen; man muß sich in dieser Beziehung durch die oft derb realistische
Färbung im mittelalterlichen Epos nicht täuschen lassen und dieselbe für Cha¬
rakteristik ansehen. Die Zeichnung fehlt und es gewinnt beinahe den An¬
schein, als wollte der mittelalterliche Dichter durch dickaufgetragene Farben
diesen Mangel vertuschen. Ist derselbe bisher nicht zu stark empfunden
worden, so mag dieß namentlich dem Umstände zuzuschreiben sein, daß der
moderne Leser ans Charakterisiren in so weit schon gewöhnt ist, und selber
mit seiner Phantasie nachhilft, wo der Dichter ihn im Stiche läßt. Doch
wie ungenügend sind diese eigenen Nothbehelfe im Vergleich zu der gewaltigen
Plastik, über welche Jordan verfügt. Uns ist Friedrich Barbarossa nach allen


durch seine eifrige Theilnahme an der Coalition von 1838 das üble Beispiel
gegeben hatte: sie folgten nur den Eingebungen des Parteihasses, verbanden
sich mit Socialisten, Republikanern und Legitimisten, um den verhaßten Mi¬
nister zu stürzen, und das Resultat dieser verwerflichen Coalition war die
Februarrevolution von 1848, die, aus ungesunden Parteiverhältnissen hervorge¬
gangen, die Elemente, die bisher nur durch wenige parlamentarische Wort¬
führer im officiellen Frankreich Eingang gefunden hatte, rasch emporschnellte
und die alten Parteien in den Hintergrund drängte. Socialismus, Bona¬
partismus, Ultramontanismus, das sind die Factoren, deren Wechselbeziehun¬
gen nach der Februarrevolution über das Schicksal Frankreichs bestimmen.
Die alten Parteien, gemäßigte Republikaner wie Monarchisten, werden in die
Defensive gedrängt: erst die Abnutzung des Kaiserthums führt sie auf die
Bühne zurück, und kaum berechtigt ihr schwaches, unsicheres und zugleich
tumultuarisches Auftreten dem sinkenden Bonapartismus gegenüber zu dem
Glauben, daß sie geläutert hervorgegangen sind aus der Zeit der Prüfung,
auf die wir im folgenden Artikel einen Blick werfen wollen.




Wilhelm Jordan's Kibelunge.
(Schluß.)

Es braucht nicht erst ausgeführt zu werden, daß Jordan alle Gestalten
der alten Dichtung erst zu wirklichen Menschen gemacht hat, indem er die¬
selben aus dem nebelhaften, schattenähnlichen Zustande, in dem sie in der
mittelalterlichen Dichtung zum Theil wenigstens erscheinen, erlöst und ihr
Thun und Lassen psychologisch begründet hat. Denn erst solche psychologische
Begründung läßt uns einen Charakter als einen wahrhaft menschlichen be¬
greifen; man muß sich in dieser Beziehung durch die oft derb realistische
Färbung im mittelalterlichen Epos nicht täuschen lassen und dieselbe für Cha¬
rakteristik ansehen. Die Zeichnung fehlt und es gewinnt beinahe den An¬
schein, als wollte der mittelalterliche Dichter durch dickaufgetragene Farben
diesen Mangel vertuschen. Ist derselbe bisher nicht zu stark empfunden
worden, so mag dieß namentlich dem Umstände zuzuschreiben sein, daß der
moderne Leser ans Charakterisiren in so weit schon gewöhnt ist, und selber
mit seiner Phantasie nachhilft, wo der Dichter ihn im Stiche läßt. Doch
wie ungenügend sind diese eigenen Nothbehelfe im Vergleich zu der gewaltigen
Plastik, über welche Jordan verfügt. Uns ist Friedrich Barbarossa nach allen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/181>, abgerufen am 24.07.2024.