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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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xroviäentia maiorum, gegen die Stabilität der Familienfideicommisse, die wir
zu hören vermeinen? Und sind die Declamationen gegen diese lästigen Fesseln
des Verkehrs so geläufig, wir haben bereits einen verfassungsmäßigen Aus¬
druck dafür gewonnen, wenn ihn eine rückläufige Bewegung auch wieder ein¬
zuschränken versuchte; um so dankbarer müssen wir anerkennen, daß ein großer
Theil unserer Thaten in den Gesinnungen unserer nationalen Dichter
wurzelt.

Eine ebenso freie und große Anschauung bekunden auch die Andeutungen'
über die Nothwendigkeit einer Ablösung der bestehenden Lasten. Lothario
will auf seinen Gütern eine bessere Zeit herbeiführen.

"Ich übersehe sehr deutlich," sagt Lothario, "daß ich in vielen Stücken
bei der Wirthschaft meiner Güter die Dienste meiner Landleute nicht entbeh¬
ren kann, und daß ich auf gewissen Stücken strack und streng halten muß;
ich sehe aber auch, daß andre Befugnisse mir zwar vortheilhaft, aber nicht
ganz unentbehrlich sind, sodaß ich davon meinen Leuten auch was gönnen
kann. Man verliert nicht immer, wenn man entbehrt. Nutze ich meine Gü¬
ter nicht weit besser als mein Bater? Werde ich meine Einkünfte nicht noch
höher treiben? Und soll ich diesen wachsenden Vortheil allein genießen? Soll
ich dem, der mit mir und für mich arbeitet, nicht auch in dem Seinigen
Vortheile gönnen, die uns erweiterte Kenntnisse, die uns eine vorrückende Zeit
darbietet?"

Nun, was Goethe für gerecht und nothwendig hielt, was in der franzö¬
sischen Revolution eine gewaltsame Lösung fand, ist im Großen und Ganzen
in dem bedeutendsten Theile Deutschlands in friedlicher Arbeit durchgeführt.
Goethe selbst erlebte noch das erste Menschenalter, das sich mit der Realisirung
dieser Bestrebungen abmühte.

Ich glaube, die angeführten Stellen sind ein neuer Beitrag für die immer
wehr wachsende Erkenntniß, daß Goethe in allen Beziehungen mit den Inter¬
nen seiner Zeit und seines Vaterlandes auf das Innigste verbunden war.
Wahrlich, jeder Schmerzenslaut fand seinen Wiederhall in Goethe's Herzen.
Mochten die Strumpfwirker in Apolda hungern, oder der Bauer unter der
Last seiner Frohnden zusammensinken. Die Forderungen socialer Gleichheit
und Freiheit hat er in allen seinen Schöpfungen bethätigt, wenn ihn auch
die französische Republik ihres Bürgerrechts nicht für würdig erachtete. Und
wie konnte es anders sein? Sollte er, der uns als Ideal frei entwickelter
Persönlichkeit erscheint, keinen Sinn haben für die Voraussetzung, unter der
sich einzig und allein die schöpferische Persönlichkeit bethätigen kann und welche
?. H. nichts andres ist als die Freiheit?




xroviäentia maiorum, gegen die Stabilität der Familienfideicommisse, die wir
zu hören vermeinen? Und sind die Declamationen gegen diese lästigen Fesseln
des Verkehrs so geläufig, wir haben bereits einen verfassungsmäßigen Aus¬
druck dafür gewonnen, wenn ihn eine rückläufige Bewegung auch wieder ein¬
zuschränken versuchte; um so dankbarer müssen wir anerkennen, daß ein großer
Theil unserer Thaten in den Gesinnungen unserer nationalen Dichter
wurzelt.

Eine ebenso freie und große Anschauung bekunden auch die Andeutungen'
über die Nothwendigkeit einer Ablösung der bestehenden Lasten. Lothario
will auf seinen Gütern eine bessere Zeit herbeiführen.

„Ich übersehe sehr deutlich," sagt Lothario, „daß ich in vielen Stücken
bei der Wirthschaft meiner Güter die Dienste meiner Landleute nicht entbeh¬
ren kann, und daß ich auf gewissen Stücken strack und streng halten muß;
ich sehe aber auch, daß andre Befugnisse mir zwar vortheilhaft, aber nicht
ganz unentbehrlich sind, sodaß ich davon meinen Leuten auch was gönnen
kann. Man verliert nicht immer, wenn man entbehrt. Nutze ich meine Gü¬
ter nicht weit besser als mein Bater? Werde ich meine Einkünfte nicht noch
höher treiben? Und soll ich diesen wachsenden Vortheil allein genießen? Soll
ich dem, der mit mir und für mich arbeitet, nicht auch in dem Seinigen
Vortheile gönnen, die uns erweiterte Kenntnisse, die uns eine vorrückende Zeit
darbietet?"

Nun, was Goethe für gerecht und nothwendig hielt, was in der franzö¬
sischen Revolution eine gewaltsame Lösung fand, ist im Großen und Ganzen
in dem bedeutendsten Theile Deutschlands in friedlicher Arbeit durchgeführt.
Goethe selbst erlebte noch das erste Menschenalter, das sich mit der Realisirung
dieser Bestrebungen abmühte.

Ich glaube, die angeführten Stellen sind ein neuer Beitrag für die immer
wehr wachsende Erkenntniß, daß Goethe in allen Beziehungen mit den Inter¬
nen seiner Zeit und seines Vaterlandes auf das Innigste verbunden war.
Wahrlich, jeder Schmerzenslaut fand seinen Wiederhall in Goethe's Herzen.
Mochten die Strumpfwirker in Apolda hungern, oder der Bauer unter der
Last seiner Frohnden zusammensinken. Die Forderungen socialer Gleichheit
und Freiheit hat er in allen seinen Schöpfungen bethätigt, wenn ihn auch
die französische Republik ihres Bürgerrechts nicht für würdig erachtete. Und
wie konnte es anders sein? Sollte er, der uns als Ideal frei entwickelter
Persönlichkeit erscheint, keinen Sinn haben für die Voraussetzung, unter der
sich einzig und allein die schöpferische Persönlichkeit bethätigen kann und welche
?. H. nichts andres ist als die Freiheit?




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[0103] xroviäentia maiorum, gegen die Stabilität der Familienfideicommisse, die wir zu hören vermeinen? Und sind die Declamationen gegen diese lästigen Fesseln des Verkehrs so geläufig, wir haben bereits einen verfassungsmäßigen Aus¬ druck dafür gewonnen, wenn ihn eine rückläufige Bewegung auch wieder ein¬ zuschränken versuchte; um so dankbarer müssen wir anerkennen, daß ein großer Theil unserer Thaten in den Gesinnungen unserer nationalen Dichter wurzelt. Eine ebenso freie und große Anschauung bekunden auch die Andeutungen' über die Nothwendigkeit einer Ablösung der bestehenden Lasten. Lothario will auf seinen Gütern eine bessere Zeit herbeiführen. „Ich übersehe sehr deutlich," sagt Lothario, „daß ich in vielen Stücken bei der Wirthschaft meiner Güter die Dienste meiner Landleute nicht entbeh¬ ren kann, und daß ich auf gewissen Stücken strack und streng halten muß; ich sehe aber auch, daß andre Befugnisse mir zwar vortheilhaft, aber nicht ganz unentbehrlich sind, sodaß ich davon meinen Leuten auch was gönnen kann. Man verliert nicht immer, wenn man entbehrt. Nutze ich meine Gü¬ ter nicht weit besser als mein Bater? Werde ich meine Einkünfte nicht noch höher treiben? Und soll ich diesen wachsenden Vortheil allein genießen? Soll ich dem, der mit mir und für mich arbeitet, nicht auch in dem Seinigen Vortheile gönnen, die uns erweiterte Kenntnisse, die uns eine vorrückende Zeit darbietet?" Nun, was Goethe für gerecht und nothwendig hielt, was in der franzö¬ sischen Revolution eine gewaltsame Lösung fand, ist im Großen und Ganzen in dem bedeutendsten Theile Deutschlands in friedlicher Arbeit durchgeführt. Goethe selbst erlebte noch das erste Menschenalter, das sich mit der Realisirung dieser Bestrebungen abmühte. Ich glaube, die angeführten Stellen sind ein neuer Beitrag für die immer wehr wachsende Erkenntniß, daß Goethe in allen Beziehungen mit den Inter¬ nen seiner Zeit und seines Vaterlandes auf das Innigste verbunden war. Wahrlich, jeder Schmerzenslaut fand seinen Wiederhall in Goethe's Herzen. Mochten die Strumpfwirker in Apolda hungern, oder der Bauer unter der Last seiner Frohnden zusammensinken. Die Forderungen socialer Gleichheit und Freiheit hat er in allen seinen Schöpfungen bethätigt, wenn ihn auch die französische Republik ihres Bürgerrechts nicht für würdig erachtete. Und wie konnte es anders sein? Sollte er, der uns als Ideal frei entwickelter Persönlichkeit erscheint, keinen Sinn haben für die Voraussetzung, unter der sich einzig und allein die schöpferische Persönlichkeit bethätigen kann und welche ?. H. nichts andres ist als die Freiheit?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/103>, abgerufen am 24.07.2024.