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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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der deutschen Verwaltung lassen sich nicht mit seuilletonistischen Gedanken¬
blitzen lösen oder auch nur erschöpfend andeuten. Da kommt man der Sache
mit solchen kleinen, aber sehr gewissenhaften Arbeiten, wie sie Dr. Karl
Bernhards in seiner " Sprach'karte" und "Sprachgrenze zwischen
Deutschland und Frankreich" liefert (Kassel 1871, A. Freyschmidt),
schon wesentlich näher. Beiläufig bemerkt, läuft die Bernhardi'sche Sprach¬
linie auf der weitesten Ausdehnung fast genau mit der Grenzlinie des Frie¬
dens zusammen, die letztere biegt nur bei Metz und Diedenhofen aus strate¬
gischen Gründen stark nach Westen aus.

Während draußen im Felde und daheim die Jungen und Alten aller
deutschen Stämme endlich das Geheimniß deutscher Blutsverwandtschaft
erkennen, und ihren neuen Staat danach einrichten, legte sich der vor zwanzig
Jahren schon geistig verstorbene Professor Gervinus in Heidelberg die kluge
Frage vor: "Was würden Dcchlmann und die Gebrüder Grimm zu diesen
schlechten Zeiten sagen?" Für ihn war das eigentlich gar keine Frage; denn
er hatte natürlich die genaueste Kenntniß davon, daß diese seligen Geister
über das Jahr 1866 und 1870 genau so denken, wie der einstige Redacteur
der deutschen Zeitung. Er stempelte also in seiner Vorrede zur fünften Auf¬
lage feiner "Geschichte der deutschen Dichtung" Drei von den Göttinger Sieben
ruhig zu Particularisten von Ewalds Schlag, die mit ihm 1866 als "Tage
der Schmach, Gewaltthat und Bundesbrüchigkeit lieber ausgeitoßen haben
würden." Denn: "ich kann das wissen." Daß die beiden andern überleben¬
den Göttinger Albrecht und Weber anderen Sinnes sind, kümmerte ihn so
wenig, wie alle die Niederlagen, welche er mit seinen politischen Prophezeiun¬
gen und Behauptungen seit dreißig Jahren gesammelt hat. Karl Braun
gebührt das Verdienst, Gervinus wegen dieser'Verunglimpfung großer Todter
in der Nationalzeitung gebührend abgestraft zu haben. Dabei beruhigte sich
aber Gervinus nicht; er erhob in der Augsburger Zeitung die directe Anklage
des qualifizirten Föderalismus gegen Dcchlmann und Jacob Grimm und for¬
derte damit natürlich, in einer Replik Braun's, Citate aus den Schriften die¬
ser Männer heraus, die ihn direct Lügen straften. Das Schlimmste aber kam
noch. Gervinus hatte in seiner gewöhnlichen Verstimmung den Verdacht hin¬
geworfen, Braun könne am Ende -- auf Bestellung der nächsten Verwandten
der Grimm's und Dcchlmann's, ihn so schnöde angegriffen haben, und hatte
nun auch dem Besserwissen dieser Verwandten Trotz'geboten. Da erhob sich
aber Hermann Grimm, der Sohn Wilhelm's, und legte lautes männliches
Zeugniß ab für die deutsche Gesinnung seines Vaters und Onkels, gegen den
"alten Freund ihres Hauses." Damit war der Handel zu Gervinus bitterer
Beschämung entschieden. Braun hat nun (bei Duncker und Humblot,
Leipzig, 1871) diesen frischen fröhlichen Federkrieg unter dem Titel "Gegen
G. G. Gervinus", in dem Rahmen eines Civüstreits gesammelt; 1. Klage-
Schrift von K. Braun. 2., Klage-Beantwortung von G. G. Gervinus.
3., Replik von Braun. 4.. Intervention von Hermann Grimm, 5., das Er¬
kenntniß." Das Erkenntniß "wird gesprochen werden von dem Gerichtshofe
der öffentlichen Meinung in Deutschland." Der ganze Proceß gehört zu
jener Art summarischer Provocationsprocesse, die unter dem Präjudiz des
ewigen Stillschweigens zum ewigen Gedächtniß geführt werden. Die Streit¬
schrift mag auch den Nachfahren Zeugniß geben dafür, bis zu welchem Grade
von Vaterlandslosigkeit sich während des größten Deutschen Krieges deutscher
Professorendünkel verirren konnte. Gleichzeitig aber bietet die Schrift auch
die würdevollste Schilderung von der Treue und Zuversicht, mit denen die
besten Namen deutscher Gelehrter in den trübsten Tagen des öffentlichen


der deutschen Verwaltung lassen sich nicht mit seuilletonistischen Gedanken¬
blitzen lösen oder auch nur erschöpfend andeuten. Da kommt man der Sache
mit solchen kleinen, aber sehr gewissenhaften Arbeiten, wie sie Dr. Karl
Bernhards in seiner „ Sprach'karte" und „Sprachgrenze zwischen
Deutschland und Frankreich" liefert (Kassel 1871, A. Freyschmidt),
schon wesentlich näher. Beiläufig bemerkt, läuft die Bernhardi'sche Sprach¬
linie auf der weitesten Ausdehnung fast genau mit der Grenzlinie des Frie¬
dens zusammen, die letztere biegt nur bei Metz und Diedenhofen aus strate¬
gischen Gründen stark nach Westen aus.

Während draußen im Felde und daheim die Jungen und Alten aller
deutschen Stämme endlich das Geheimniß deutscher Blutsverwandtschaft
erkennen, und ihren neuen Staat danach einrichten, legte sich der vor zwanzig
Jahren schon geistig verstorbene Professor Gervinus in Heidelberg die kluge
Frage vor: „Was würden Dcchlmann und die Gebrüder Grimm zu diesen
schlechten Zeiten sagen?" Für ihn war das eigentlich gar keine Frage; denn
er hatte natürlich die genaueste Kenntniß davon, daß diese seligen Geister
über das Jahr 1866 und 1870 genau so denken, wie der einstige Redacteur
der deutschen Zeitung. Er stempelte also in seiner Vorrede zur fünften Auf¬
lage feiner „Geschichte der deutschen Dichtung" Drei von den Göttinger Sieben
ruhig zu Particularisten von Ewalds Schlag, die mit ihm 1866 als „Tage
der Schmach, Gewaltthat und Bundesbrüchigkeit lieber ausgeitoßen haben
würden." Denn: „ich kann das wissen." Daß die beiden andern überleben¬
den Göttinger Albrecht und Weber anderen Sinnes sind, kümmerte ihn so
wenig, wie alle die Niederlagen, welche er mit seinen politischen Prophezeiun¬
gen und Behauptungen seit dreißig Jahren gesammelt hat. Karl Braun
gebührt das Verdienst, Gervinus wegen dieser'Verunglimpfung großer Todter
in der Nationalzeitung gebührend abgestraft zu haben. Dabei beruhigte sich
aber Gervinus nicht; er erhob in der Augsburger Zeitung die directe Anklage
des qualifizirten Föderalismus gegen Dcchlmann und Jacob Grimm und for¬
derte damit natürlich, in einer Replik Braun's, Citate aus den Schriften die¬
ser Männer heraus, die ihn direct Lügen straften. Das Schlimmste aber kam
noch. Gervinus hatte in seiner gewöhnlichen Verstimmung den Verdacht hin¬
geworfen, Braun könne am Ende — auf Bestellung der nächsten Verwandten
der Grimm's und Dcchlmann's, ihn so schnöde angegriffen haben, und hatte
nun auch dem Besserwissen dieser Verwandten Trotz'geboten. Da erhob sich
aber Hermann Grimm, der Sohn Wilhelm's, und legte lautes männliches
Zeugniß ab für die deutsche Gesinnung seines Vaters und Onkels, gegen den
„alten Freund ihres Hauses." Damit war der Handel zu Gervinus bitterer
Beschämung entschieden. Braun hat nun (bei Duncker und Humblot,
Leipzig, 1871) diesen frischen fröhlichen Federkrieg unter dem Titel „Gegen
G. G. Gervinus", in dem Rahmen eines Civüstreits gesammelt; 1. Klage-
Schrift von K. Braun. 2., Klage-Beantwortung von G. G. Gervinus.
3., Replik von Braun. 4.. Intervention von Hermann Grimm, 5., das Er¬
kenntniß." Das Erkenntniß „wird gesprochen werden von dem Gerichtshofe
der öffentlichen Meinung in Deutschland." Der ganze Proceß gehört zu
jener Art summarischer Provocationsprocesse, die unter dem Präjudiz des
ewigen Stillschweigens zum ewigen Gedächtniß geführt werden. Die Streit¬
schrift mag auch den Nachfahren Zeugniß geben dafür, bis zu welchem Grade
von Vaterlandslosigkeit sich während des größten Deutschen Krieges deutscher
Professorendünkel verirren konnte. Gleichzeitig aber bietet die Schrift auch
die würdevollste Schilderung von der Treue und Zuversicht, mit denen die
besten Namen deutscher Gelehrter in den trübsten Tagen des öffentlichen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/87>, abgerufen am 27.12.2024.