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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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winkeln sitzt, auf den Lippen spielt? -- Ihr Antlitz besitzt das reinste grie¬
chische Oval und sitzt gerade auf dem wundervoll gerundeten Hals, der fast
die Breite des Gesichtes einnimmt. Die Augenbrauen sind sein und fast
zackenförmig gezeichnet, nicht hoch geschweift. Die großen Augenlider verdecken
zur Hälfte die langgeschnittenm Augen. Die Nase ist zwar gerade, aber
ziemlich kräftig. Das braune reiche Haar ist phantastisch zu beiden Seiten
des Hauptes aufgebauscht, in der Mitte gescheitelt und mit einem Lorbeer¬
kranz geschmückt: eine Locke fällt in feinen, duftigen Wellen über die rechte
Schulter herab. Diese dacht sich in einer weichen, vollen Curve schnell ab und
geht unversehens in den üppigen, prächtig gerundeten Arm über. Ebenso ist
der Uebergang vom Hals zur herrlich geformten Brust von unvergleichlicher
Zartheit und Weiche. Die Figur ist gegenwärtig nur noch im Brustbild
vorhanden, doch scheint die Schiefertafel, auf die sie gemalt ist, verstümmelt
zu sein, da z. B. oben ein Theil vom Kranz und Haar weggeschnitten ist.
Ueber die rechte Schulter fällt ein schleierartiger Streifen, der die Leier zu
tragen scheint, die hinter der Schulter emporragt. Die ganze Figur ist in
allen Theilen so wundervoll rund modellirt, daß sie sofort an eine Statue
erinnert. Dabei ist die Farbe von einer solchen Frische und Natürlichkeit,
daß sie nicht nur wie gestern aufgetragen, sondern wie das Leben selbst er¬
scheint. Wie wahr und doch edel sind die Lorbeerblätter in ihren dunkel¬
grünen Tönen gemalt und modellirt, wie lebendig glänzen die Augen, die
Haare! Doch treten alle diese Borzüge erst in einer gewissen Distanz recht
hervor, da die Farben mit kräftigem, breitem Pinsel, wie ihn höchstens die
Venetianer führten, aufgetragen sind. Ein zartes Roth übergießt die Wan¬
gen, bräunliche Goldtöne schattiren die Brust. Mit Meisterschaft sind Schat¬
ten und Lichter hingesetzt. Ein Räthsel bleibt mir die Farbensubstanz.
Welche Farbe konnte dem Feuer widerstehen, wie diese gethan haben soll,
welche Farbe konnte Jahrtausende hindurch solche Frische bewahren? Am meisten
gleicht sie durch ihre glänzende Oberfläche einer Art Email. Wegen dieser
Farbenfrische und endlich wegen der seltsamen Form der Leier hat man auch
schon ihr Alter angezweifelt. Wäre sie nicht sicher antik, so könnte sie höch¬
stens aus der Renaissance und zwar wieder nur von Lionardo, Raphael oder
Tizian herstammen. Denn nur Werke dieser Meister können mit einer so
vollkommenen Schöpfung verglichen werden. Aber von keinem derselben ist
ihr der Stempel aufgedrückt, vielmehr weist sie, trotz einzelner auffallender
Erscheinungen, wie z. B. auch der Porträtartigkeit, mit aller Entschiedenheit
durch ihre ganze Auffassung auf die antiken Sculpturen und auf die antiken
Gemälde Pompejis hin, wenn sie auch hoch über allen letzteren steht.

Leider geben uns die Nachrichten über ihre Auffindung keine festen An¬
haltungspunkte zu einem Nachweis ihrer Aechtheit. Schon zu Anfang des


Grenzboten I. 1871. 1Z0

winkeln sitzt, auf den Lippen spielt? — Ihr Antlitz besitzt das reinste grie¬
chische Oval und sitzt gerade auf dem wundervoll gerundeten Hals, der fast
die Breite des Gesichtes einnimmt. Die Augenbrauen sind sein und fast
zackenförmig gezeichnet, nicht hoch geschweift. Die großen Augenlider verdecken
zur Hälfte die langgeschnittenm Augen. Die Nase ist zwar gerade, aber
ziemlich kräftig. Das braune reiche Haar ist phantastisch zu beiden Seiten
des Hauptes aufgebauscht, in der Mitte gescheitelt und mit einem Lorbeer¬
kranz geschmückt: eine Locke fällt in feinen, duftigen Wellen über die rechte
Schulter herab. Diese dacht sich in einer weichen, vollen Curve schnell ab und
geht unversehens in den üppigen, prächtig gerundeten Arm über. Ebenso ist
der Uebergang vom Hals zur herrlich geformten Brust von unvergleichlicher
Zartheit und Weiche. Die Figur ist gegenwärtig nur noch im Brustbild
vorhanden, doch scheint die Schiefertafel, auf die sie gemalt ist, verstümmelt
zu sein, da z. B. oben ein Theil vom Kranz und Haar weggeschnitten ist.
Ueber die rechte Schulter fällt ein schleierartiger Streifen, der die Leier zu
tragen scheint, die hinter der Schulter emporragt. Die ganze Figur ist in
allen Theilen so wundervoll rund modellirt, daß sie sofort an eine Statue
erinnert. Dabei ist die Farbe von einer solchen Frische und Natürlichkeit,
daß sie nicht nur wie gestern aufgetragen, sondern wie das Leben selbst er¬
scheint. Wie wahr und doch edel sind die Lorbeerblätter in ihren dunkel¬
grünen Tönen gemalt und modellirt, wie lebendig glänzen die Augen, die
Haare! Doch treten alle diese Borzüge erst in einer gewissen Distanz recht
hervor, da die Farben mit kräftigem, breitem Pinsel, wie ihn höchstens die
Venetianer führten, aufgetragen sind. Ein zartes Roth übergießt die Wan¬
gen, bräunliche Goldtöne schattiren die Brust. Mit Meisterschaft sind Schat¬
ten und Lichter hingesetzt. Ein Räthsel bleibt mir die Farbensubstanz.
Welche Farbe konnte dem Feuer widerstehen, wie diese gethan haben soll,
welche Farbe konnte Jahrtausende hindurch solche Frische bewahren? Am meisten
gleicht sie durch ihre glänzende Oberfläche einer Art Email. Wegen dieser
Farbenfrische und endlich wegen der seltsamen Form der Leier hat man auch
schon ihr Alter angezweifelt. Wäre sie nicht sicher antik, so könnte sie höch¬
stens aus der Renaissance und zwar wieder nur von Lionardo, Raphael oder
Tizian herstammen. Denn nur Werke dieser Meister können mit einer so
vollkommenen Schöpfung verglichen werden. Aber von keinem derselben ist
ihr der Stempel aufgedrückt, vielmehr weist sie, trotz einzelner auffallender
Erscheinungen, wie z. B. auch der Porträtartigkeit, mit aller Entschiedenheit
durch ihre ganze Auffassung auf die antiken Sculpturen und auf die antiken
Gemälde Pompejis hin, wenn sie auch hoch über allen letzteren steht.

Leider geben uns die Nachrichten über ihre Auffindung keine festen An¬
haltungspunkte zu einem Nachweis ihrer Aechtheit. Schon zu Anfang des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/513>, abgerufen am 29.12.2024.