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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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Schatten von den Nadeln der Cleopatra wird das Licht der Sonne gemessen.
Nur ein Verkennen seiner innersten Natur, ein Mißverstehen seiner Worre
konnte, -- wie in einem solchen Artikel geschehen ist -- den Vorwurf gegen
ihn erheben: "den tiefen Ideen und Tendenzen des modernen
Geistes stand er fremd gegenüber." Es ist wahr, Goltz vermochte
nicht sich zu erfreuen an der Vielgeschäftigkeit unserer Zeit, die dem innern
Leben der Seele Luft und Licht entzieht, an dem immer verwickelter werden¬
den Gange von Dingen, die er selbst noch hatte in einfachen Bahnen ablaufen
sehen; er vermochte auch nicht, sich sofort zu begeistern für jede neue Erfin¬
dung und Einrichtung, die als neues weltbeglückendes Culturelement ange¬
priesen und rasch von andern wieder verdrängt ward; es ist wahr, Wehmuth
erfüllte sein Herz, wenn er sah, daß im Gange und Drange der Ideen und
Thaten vieles vernichtet wurde, was Generationen hindurch den Menschen
Glück und Zufriedenheit geboten hatte, -- aber alles Wahre und Reine in
der Geistesbewegung der Neuzeit, Alles, was in der Entwickelung der Mensch¬
heit der heiligen Weltordnung Gottes gemäß war, das erkannte er wohl,
würdigte es in vollem Umfang und begrüßte mit freudigem Herzen jeden
Fortschritt des wahren Menschenthums.

Es ist eine gewöhnliche Erscheinung, daß gewöhnliche Menschen die
Dinge und deren gegenseitige Stellung und Wirkung nicht nur danach be¬
trachten und beurtheilen, wie diese Dinge sich ihnen beim ersten Anblick dar¬
stellen, sondern auch bei einem Wechsel der Lage an dieser ersten Anschauung
festhalten und ihr erstes Urtheil aus "Prinzipientreue" behaupten. Anders
war Goltz von der Natur veranlagt und geschaffen. Seitdem er begonnen hatte
tiefer zu denken, hielt er sest an der Erkenntniß: die Dinge seien nicht so oder
so, sondern alle ohne Ausnahme so und so. Darum blendete auch bei keiner
Erscheinung selbst der hellste Glanz der einen Seite seinen Blick und begrün¬
dete ausschließlich sein Urtheil. Er wechselte im Geiste seinen Standpunkt zu
Dingen, Menschen und Verhältnissen, erwog deren Sein und Wesen, Wirken
und Schaffen, faßte sie von verschiedenen Punkten auf, und erregte damit
freilich oft bei einseitig denkenden Leuten den Schein des Widerspruchs mit
sich selber, den 'diese prinzipientreuer Seelen auch nicht unterließen, ihm vorzu¬
werfen. Ebenso oft finden Andere Wiederholungen in seinen Gedanken.
Die Einen wie die Andern bekunden damit jedoch nur, daß sie den Reich¬
thum nicht begreifen konnten, kraft dessen derselbe Geist aus denselbigen
Dingen so vielfarbige Bilder erschuf.

Unter allen Wundern, mit welchen Gott uns begnadigt, beachten und
begreifen wir die am seltensten, wenn er Menschen wie wir zu seinen Boten
erwählt, sie zu Propheten beruft, die seinen Willen durch Thaten vollziehen,


Schatten von den Nadeln der Cleopatra wird das Licht der Sonne gemessen.
Nur ein Verkennen seiner innersten Natur, ein Mißverstehen seiner Worre
konnte, — wie in einem solchen Artikel geschehen ist — den Vorwurf gegen
ihn erheben: „den tiefen Ideen und Tendenzen des modernen
Geistes stand er fremd gegenüber." Es ist wahr, Goltz vermochte
nicht sich zu erfreuen an der Vielgeschäftigkeit unserer Zeit, die dem innern
Leben der Seele Luft und Licht entzieht, an dem immer verwickelter werden¬
den Gange von Dingen, die er selbst noch hatte in einfachen Bahnen ablaufen
sehen; er vermochte auch nicht, sich sofort zu begeistern für jede neue Erfin¬
dung und Einrichtung, die als neues weltbeglückendes Culturelement ange¬
priesen und rasch von andern wieder verdrängt ward; es ist wahr, Wehmuth
erfüllte sein Herz, wenn er sah, daß im Gange und Drange der Ideen und
Thaten vieles vernichtet wurde, was Generationen hindurch den Menschen
Glück und Zufriedenheit geboten hatte, — aber alles Wahre und Reine in
der Geistesbewegung der Neuzeit, Alles, was in der Entwickelung der Mensch¬
heit der heiligen Weltordnung Gottes gemäß war, das erkannte er wohl,
würdigte es in vollem Umfang und begrüßte mit freudigem Herzen jeden
Fortschritt des wahren Menschenthums.

Es ist eine gewöhnliche Erscheinung, daß gewöhnliche Menschen die
Dinge und deren gegenseitige Stellung und Wirkung nicht nur danach be¬
trachten und beurtheilen, wie diese Dinge sich ihnen beim ersten Anblick dar¬
stellen, sondern auch bei einem Wechsel der Lage an dieser ersten Anschauung
festhalten und ihr erstes Urtheil aus „Prinzipientreue" behaupten. Anders
war Goltz von der Natur veranlagt und geschaffen. Seitdem er begonnen hatte
tiefer zu denken, hielt er sest an der Erkenntniß: die Dinge seien nicht so oder
so, sondern alle ohne Ausnahme so und so. Darum blendete auch bei keiner
Erscheinung selbst der hellste Glanz der einen Seite seinen Blick und begrün¬
dete ausschließlich sein Urtheil. Er wechselte im Geiste seinen Standpunkt zu
Dingen, Menschen und Verhältnissen, erwog deren Sein und Wesen, Wirken
und Schaffen, faßte sie von verschiedenen Punkten auf, und erregte damit
freilich oft bei einseitig denkenden Leuten den Schein des Widerspruchs mit
sich selber, den 'diese prinzipientreuer Seelen auch nicht unterließen, ihm vorzu¬
werfen. Ebenso oft finden Andere Wiederholungen in seinen Gedanken.
Die Einen wie die Andern bekunden damit jedoch nur, daß sie den Reich¬
thum nicht begreifen konnten, kraft dessen derselbe Geist aus denselbigen
Dingen so vielfarbige Bilder erschuf.

Unter allen Wundern, mit welchen Gott uns begnadigt, beachten und
begreifen wir die am seltensten, wenn er Menschen wie wir zu seinen Boten
erwählt, sie zu Propheten beruft, die seinen Willen durch Thaten vollziehen,


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[0504] Schatten von den Nadeln der Cleopatra wird das Licht der Sonne gemessen. Nur ein Verkennen seiner innersten Natur, ein Mißverstehen seiner Worre konnte, — wie in einem solchen Artikel geschehen ist — den Vorwurf gegen ihn erheben: „den tiefen Ideen und Tendenzen des modernen Geistes stand er fremd gegenüber." Es ist wahr, Goltz vermochte nicht sich zu erfreuen an der Vielgeschäftigkeit unserer Zeit, die dem innern Leben der Seele Luft und Licht entzieht, an dem immer verwickelter werden¬ den Gange von Dingen, die er selbst noch hatte in einfachen Bahnen ablaufen sehen; er vermochte auch nicht, sich sofort zu begeistern für jede neue Erfin¬ dung und Einrichtung, die als neues weltbeglückendes Culturelement ange¬ priesen und rasch von andern wieder verdrängt ward; es ist wahr, Wehmuth erfüllte sein Herz, wenn er sah, daß im Gange und Drange der Ideen und Thaten vieles vernichtet wurde, was Generationen hindurch den Menschen Glück und Zufriedenheit geboten hatte, — aber alles Wahre und Reine in der Geistesbewegung der Neuzeit, Alles, was in der Entwickelung der Mensch¬ heit der heiligen Weltordnung Gottes gemäß war, das erkannte er wohl, würdigte es in vollem Umfang und begrüßte mit freudigem Herzen jeden Fortschritt des wahren Menschenthums. Es ist eine gewöhnliche Erscheinung, daß gewöhnliche Menschen die Dinge und deren gegenseitige Stellung und Wirkung nicht nur danach be¬ trachten und beurtheilen, wie diese Dinge sich ihnen beim ersten Anblick dar¬ stellen, sondern auch bei einem Wechsel der Lage an dieser ersten Anschauung festhalten und ihr erstes Urtheil aus „Prinzipientreue" behaupten. Anders war Goltz von der Natur veranlagt und geschaffen. Seitdem er begonnen hatte tiefer zu denken, hielt er sest an der Erkenntniß: die Dinge seien nicht so oder so, sondern alle ohne Ausnahme so und so. Darum blendete auch bei keiner Erscheinung selbst der hellste Glanz der einen Seite seinen Blick und begrün¬ dete ausschließlich sein Urtheil. Er wechselte im Geiste seinen Standpunkt zu Dingen, Menschen und Verhältnissen, erwog deren Sein und Wesen, Wirken und Schaffen, faßte sie von verschiedenen Punkten auf, und erregte damit freilich oft bei einseitig denkenden Leuten den Schein des Widerspruchs mit sich selber, den 'diese prinzipientreuer Seelen auch nicht unterließen, ihm vorzu¬ werfen. Ebenso oft finden Andere Wiederholungen in seinen Gedanken. Die Einen wie die Andern bekunden damit jedoch nur, daß sie den Reich¬ thum nicht begreifen konnten, kraft dessen derselbe Geist aus denselbigen Dingen so vielfarbige Bilder erschuf. Unter allen Wundern, mit welchen Gott uns begnadigt, beachten und begreifen wir die am seltensten, wenn er Menschen wie wir zu seinen Boten erwählt, sie zu Propheten beruft, die seinen Willen durch Thaten vollziehen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/504>, abgerufen am 27.12.2024.