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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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wenn auch selten, so geschah doch zuweilen, daß sich ein geistig belebter Mann
nach dem öden Grenzpunkte verirrte, und die braven Golluber unterließen bei
solcher Gelegenheit nicht, dem Reisewunder zu erkennen zu geben, daß sie
zwar "in ihres Nichts durchbohrendem Gefühle" keinen Anspruch erhöben,
irgendwie interessant und merkwürdig sein, daß aber doch ein Mann bei
ihnen angesiedelt sei, dem der Geist nicht blos dazu diene, das Fleisch bei
lebendigem Leibe vor Fäulniß zu wahren und führten dann eiligst den Frem¬
den zu Goltz. So war es unter andern auch dem jetzigen Rath im Unter¬
richtsministerium Dr. Pinder geschehen, der auf einer amtlichen Reise in
bibliothekarischen Geschäften Gollub berührt, dort Goltz kennen gelernt hatte
und als er dann nach Thorn kam und seine ehemaligen Studiengenossen
Voigt, Paul und mich aufsuchte, gegen uns sich bewundernd über den Geistes¬
diamant aussprach, den er im Sande der Drewenz gefunden.

Die Aufsätze und Schilderungen, welche Goltz seinen Freunden in Thorn
und anderen Orten vorlas, hatten bei diesen so große und einstimmige An¬
erkennung gefunden, daß er nach langem Zögern und Sträuben sich entschloß,
eine Zusammenstellung derselben dem Druck zu übergeben, zugleich aber auch
seinen Sitz von Gollub zu verlegen und fernerhin in einer Stadt zu leben,
die seinem geistigen Schaffen einen fruchtbareren Boden, eine mehr anregende
Umgebung gewährte. Zwei Werke erschienen fast zu gleicher Zeit, beide im
Jahre 1847 in Frankfurt a/M. Das kleinere zuerst gedruckte heißt: "Die
deutsche Entartung in der lichtfreundlichen und modernen
Lebensart. An den modernen Stichwörtern gezeigt." Das
größere führt den Titel: "Buch der Kindheit."

Der plötzliche, letzte und unwiederbringliche Zusammensturz des Bour-
bonenthrones im Julius 1830 hatte alle Staaten Europa's mehr oder min¬
der erschüttert, auch in Deutschland Ideen und Pläne an das Licht gebracht,
die zwar seit fünfzehn Jahren gesäet und im Stillen genährt, doch jetzt erst,
als der Boden, der sie deckte, riß und die Lust einließ, zu Tage heraufdran¬
gen, bald die alten Bäume umschlangen und in dichten Ranken zu ersticken
drohten. Es trat eine Uebergangsperiode ein, die, wie alle solche Abschnitte,
auch mancherlei Thorheiten und Irrthümer erscheinen, auf kurze Zeit wuchernd
um sich greifen und Gedankendünste sich entwickeln ließ, deren Nebelbilder
selbst sonst klare Augen blenden können. Für Menschen, die nicht nur mit
dem Verstände, sondern auch mit dem Herzen und dem Gemüth leben, sind
solche Zeiten unheimlich und beängstigend; so auch für Goltz. Wohl erkannte
er die UnHaltbarkeit mancher veralteter und abgelebter Zustände, aber er
liebte sie mit kindlicher Dankbarkeit, denn er hatte unter ihnen glückliche
Zeiten der Jugend durchlebt. Aber auch die UnHaltbarkeit des angeblich


wenn auch selten, so geschah doch zuweilen, daß sich ein geistig belebter Mann
nach dem öden Grenzpunkte verirrte, und die braven Golluber unterließen bei
solcher Gelegenheit nicht, dem Reisewunder zu erkennen zu geben, daß sie
zwar „in ihres Nichts durchbohrendem Gefühle" keinen Anspruch erhöben,
irgendwie interessant und merkwürdig sein, daß aber doch ein Mann bei
ihnen angesiedelt sei, dem der Geist nicht blos dazu diene, das Fleisch bei
lebendigem Leibe vor Fäulniß zu wahren und führten dann eiligst den Frem¬
den zu Goltz. So war es unter andern auch dem jetzigen Rath im Unter¬
richtsministerium Dr. Pinder geschehen, der auf einer amtlichen Reise in
bibliothekarischen Geschäften Gollub berührt, dort Goltz kennen gelernt hatte
und als er dann nach Thorn kam und seine ehemaligen Studiengenossen
Voigt, Paul und mich aufsuchte, gegen uns sich bewundernd über den Geistes¬
diamant aussprach, den er im Sande der Drewenz gefunden.

Die Aufsätze und Schilderungen, welche Goltz seinen Freunden in Thorn
und anderen Orten vorlas, hatten bei diesen so große und einstimmige An¬
erkennung gefunden, daß er nach langem Zögern und Sträuben sich entschloß,
eine Zusammenstellung derselben dem Druck zu übergeben, zugleich aber auch
seinen Sitz von Gollub zu verlegen und fernerhin in einer Stadt zu leben,
die seinem geistigen Schaffen einen fruchtbareren Boden, eine mehr anregende
Umgebung gewährte. Zwei Werke erschienen fast zu gleicher Zeit, beide im
Jahre 1847 in Frankfurt a/M. Das kleinere zuerst gedruckte heißt: „Die
deutsche Entartung in der lichtfreundlichen und modernen
Lebensart. An den modernen Stichwörtern gezeigt." Das
größere führt den Titel: „Buch der Kindheit."

Der plötzliche, letzte und unwiederbringliche Zusammensturz des Bour-
bonenthrones im Julius 1830 hatte alle Staaten Europa's mehr oder min¬
der erschüttert, auch in Deutschland Ideen und Pläne an das Licht gebracht,
die zwar seit fünfzehn Jahren gesäet und im Stillen genährt, doch jetzt erst,
als der Boden, der sie deckte, riß und die Lust einließ, zu Tage heraufdran¬
gen, bald die alten Bäume umschlangen und in dichten Ranken zu ersticken
drohten. Es trat eine Uebergangsperiode ein, die, wie alle solche Abschnitte,
auch mancherlei Thorheiten und Irrthümer erscheinen, auf kurze Zeit wuchernd
um sich greifen und Gedankendünste sich entwickeln ließ, deren Nebelbilder
selbst sonst klare Augen blenden können. Für Menschen, die nicht nur mit
dem Verstände, sondern auch mit dem Herzen und dem Gemüth leben, sind
solche Zeiten unheimlich und beängstigend; so auch für Goltz. Wohl erkannte
er die UnHaltbarkeit mancher veralteter und abgelebter Zustände, aber er
liebte sie mit kindlicher Dankbarkeit, denn er hatte unter ihnen glückliche
Zeiten der Jugend durchlebt. Aber auch die UnHaltbarkeit des angeblich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/498>, abgerufen am 28.09.2024.