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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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Berlin, Lord Loftus, wenn Worth seine Eigenschaft als bona unis Reisender
nachweisen könne, auf dessen Freilassung in der Weise hinzuwirken, daß er
die Rechtfertigung eines einstweiligen Zurückhaltens durch militärische Rück¬
sichten anerkenne. Der Botschafter ist aber dem Norddeutschen Staatssecretär
v. Thile vor Empfang jener Depesche bereits brüsk und ohne jene Reserven
zu Leibe gegangen: er könne nicht begreifen, wie man dazu komme, einen
britischen Unterthan, der wider Willen im Luftballon auf das Land herab¬
steige, festzunehmen. Der Minister ist später gefällig oder schwach genug,
diese in der gemäßigten Zone etwas außergewöhnliche Sprache ausdrücklich
gut zu heißen. Auch Baron Thile scheint die Ueberhebung Sr. Herrlichkeit
nicht vollkommen gebührend erwidert zu haben. Freilich ist Alles, was die
englische Diplomatie außer einer rücksichtsvollen Behandlung des Gefangenen
erlangte, nämlich die Zusicherung der Begnadigung im Fall der Beurthei¬
lung, nicht durch Lord Loftus, sondern durch Odo Rüssel erreicht worden.
Lord Loftus entschuldigt die Vergeblichkeit seiner Bemühungen durch die Ein-
flußlosigkeit des Baron Thile in dieser Angelegenheit. -- Der vor Odo Rüssel
als diplomatischer Agent Englands nach Versailles gesandte Oberst Walker
bietet Alles auf, eine Korrespondenz der "Times" zu widerlegen, der zu Folge
er die angebotene Freilassung Worth's gegen Ehrenwort durch Verweigerung
seiner Garantie vereitelt hätte. Die Nachricht der Times war ohne Zweifel
falsch, aber der Correspondent, von dem dieselbe herrührte, scheint kein An¬
derer gewesen zu sein als Walker's eigener Assistent, der bekannte Capi-
tän Hozier.

Von ungleich höherem Interesse ist, daß der Fall Worth's die Materia¬
lien liefert zu einer Ergänzung des geltenden Völkerrechts. Geben wir zunächst
die Lxeeivs taeti. Friedr. Gönner Worth ist jüngerer Theilhaber der Firma
Delattre und Worth, welche ein Geschäft in Paris und London hat. Der
Chef der Pariser Abtheilung, Delattre, französischer Baron und ehemaliger
Gardeofsicier, wurde zur Nationalgarde einberufen. Deßhalb ging Worth
von London nach Paris, um das dortige Geschäft zu überwachen. Inzwi¬
schen wurde Paris von den Deutschen eingeschlossen. Worth glaubte seines
Geschäftes und seiner Angehörigen wegen nach London zurückkehren zu müssen.
Im Mangel anderer Beförderungsmittel entschloß er sich Mitte October 1870
zu der damals schon nicht mehr ganz ungewöhnlichen Abreise per Luftballon.
Der in Paris zurückgelassene Vertreter Englands, Wodehouse, benutzte unbe¬
denklich diese Gelegenheit zu Beförderung von Briefen, wie es scheint, amt¬
lichen Inhalts, nach England. Worth hatte das Reisegeld mit 100 Pfd. Se.
bezahlt, aber der Abgang des luftigen Fahrzeugs verzögerte sich. Inzwischen
hätte sich wohl Gelegenheit zum Anschluß an den britischen Exodus auf der
lerrg, tinng. gefunden, den Wodehouse mit Erlaubniß der Belagerer organi-


Grenzbotm I. 1871. 125

Berlin, Lord Loftus, wenn Worth seine Eigenschaft als bona unis Reisender
nachweisen könne, auf dessen Freilassung in der Weise hinzuwirken, daß er
die Rechtfertigung eines einstweiligen Zurückhaltens durch militärische Rück¬
sichten anerkenne. Der Botschafter ist aber dem Norddeutschen Staatssecretär
v. Thile vor Empfang jener Depesche bereits brüsk und ohne jene Reserven
zu Leibe gegangen: er könne nicht begreifen, wie man dazu komme, einen
britischen Unterthan, der wider Willen im Luftballon auf das Land herab¬
steige, festzunehmen. Der Minister ist später gefällig oder schwach genug,
diese in der gemäßigten Zone etwas außergewöhnliche Sprache ausdrücklich
gut zu heißen. Auch Baron Thile scheint die Ueberhebung Sr. Herrlichkeit
nicht vollkommen gebührend erwidert zu haben. Freilich ist Alles, was die
englische Diplomatie außer einer rücksichtsvollen Behandlung des Gefangenen
erlangte, nämlich die Zusicherung der Begnadigung im Fall der Beurthei¬
lung, nicht durch Lord Loftus, sondern durch Odo Rüssel erreicht worden.
Lord Loftus entschuldigt die Vergeblichkeit seiner Bemühungen durch die Ein-
flußlosigkeit des Baron Thile in dieser Angelegenheit. — Der vor Odo Rüssel
als diplomatischer Agent Englands nach Versailles gesandte Oberst Walker
bietet Alles auf, eine Korrespondenz der „Times" zu widerlegen, der zu Folge
er die angebotene Freilassung Worth's gegen Ehrenwort durch Verweigerung
seiner Garantie vereitelt hätte. Die Nachricht der Times war ohne Zweifel
falsch, aber der Correspondent, von dem dieselbe herrührte, scheint kein An¬
derer gewesen zu sein als Walker's eigener Assistent, der bekannte Capi-
tän Hozier.

Von ungleich höherem Interesse ist, daß der Fall Worth's die Materia¬
lien liefert zu einer Ergänzung des geltenden Völkerrechts. Geben wir zunächst
die Lxeeivs taeti. Friedr. Gönner Worth ist jüngerer Theilhaber der Firma
Delattre und Worth, welche ein Geschäft in Paris und London hat. Der
Chef der Pariser Abtheilung, Delattre, französischer Baron und ehemaliger
Gardeofsicier, wurde zur Nationalgarde einberufen. Deßhalb ging Worth
von London nach Paris, um das dortige Geschäft zu überwachen. Inzwi¬
schen wurde Paris von den Deutschen eingeschlossen. Worth glaubte seines
Geschäftes und seiner Angehörigen wegen nach London zurückkehren zu müssen.
Im Mangel anderer Beförderungsmittel entschloß er sich Mitte October 1870
zu der damals schon nicht mehr ganz ungewöhnlichen Abreise per Luftballon.
Der in Paris zurückgelassene Vertreter Englands, Wodehouse, benutzte unbe¬
denklich diese Gelegenheit zu Beförderung von Briefen, wie es scheint, amt¬
lichen Inhalts, nach England. Worth hatte das Reisegeld mit 100 Pfd. Se.
bezahlt, aber der Abgang des luftigen Fahrzeugs verzögerte sich. Inzwischen
hätte sich wohl Gelegenheit zum Anschluß an den britischen Exodus auf der
lerrg, tinng. gefunden, den Wodehouse mit Erlaubniß der Belagerer organi-


Grenzbotm I. 1871. 125
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[0473] Berlin, Lord Loftus, wenn Worth seine Eigenschaft als bona unis Reisender nachweisen könne, auf dessen Freilassung in der Weise hinzuwirken, daß er die Rechtfertigung eines einstweiligen Zurückhaltens durch militärische Rück¬ sichten anerkenne. Der Botschafter ist aber dem Norddeutschen Staatssecretär v. Thile vor Empfang jener Depesche bereits brüsk und ohne jene Reserven zu Leibe gegangen: er könne nicht begreifen, wie man dazu komme, einen britischen Unterthan, der wider Willen im Luftballon auf das Land herab¬ steige, festzunehmen. Der Minister ist später gefällig oder schwach genug, diese in der gemäßigten Zone etwas außergewöhnliche Sprache ausdrücklich gut zu heißen. Auch Baron Thile scheint die Ueberhebung Sr. Herrlichkeit nicht vollkommen gebührend erwidert zu haben. Freilich ist Alles, was die englische Diplomatie außer einer rücksichtsvollen Behandlung des Gefangenen erlangte, nämlich die Zusicherung der Begnadigung im Fall der Beurthei¬ lung, nicht durch Lord Loftus, sondern durch Odo Rüssel erreicht worden. Lord Loftus entschuldigt die Vergeblichkeit seiner Bemühungen durch die Ein- flußlosigkeit des Baron Thile in dieser Angelegenheit. — Der vor Odo Rüssel als diplomatischer Agent Englands nach Versailles gesandte Oberst Walker bietet Alles auf, eine Korrespondenz der „Times" zu widerlegen, der zu Folge er die angebotene Freilassung Worth's gegen Ehrenwort durch Verweigerung seiner Garantie vereitelt hätte. Die Nachricht der Times war ohne Zweifel falsch, aber der Correspondent, von dem dieselbe herrührte, scheint kein An¬ derer gewesen zu sein als Walker's eigener Assistent, der bekannte Capi- tän Hozier. Von ungleich höherem Interesse ist, daß der Fall Worth's die Materia¬ lien liefert zu einer Ergänzung des geltenden Völkerrechts. Geben wir zunächst die Lxeeivs taeti. Friedr. Gönner Worth ist jüngerer Theilhaber der Firma Delattre und Worth, welche ein Geschäft in Paris und London hat. Der Chef der Pariser Abtheilung, Delattre, französischer Baron und ehemaliger Gardeofsicier, wurde zur Nationalgarde einberufen. Deßhalb ging Worth von London nach Paris, um das dortige Geschäft zu überwachen. Inzwi¬ schen wurde Paris von den Deutschen eingeschlossen. Worth glaubte seines Geschäftes und seiner Angehörigen wegen nach London zurückkehren zu müssen. Im Mangel anderer Beförderungsmittel entschloß er sich Mitte October 1870 zu der damals schon nicht mehr ganz ungewöhnlichen Abreise per Luftballon. Der in Paris zurückgelassene Vertreter Englands, Wodehouse, benutzte unbe¬ denklich diese Gelegenheit zu Beförderung von Briefen, wie es scheint, amt¬ lichen Inhalts, nach England. Worth hatte das Reisegeld mit 100 Pfd. Se. bezahlt, aber der Abgang des luftigen Fahrzeugs verzögerte sich. Inzwischen hätte sich wohl Gelegenheit zum Anschluß an den britischen Exodus auf der lerrg, tinng. gefunden, den Wodehouse mit Erlaubniß der Belagerer organi- Grenzbotm I. 1871. 125

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/473>, abgerufen am 28.09.2024.