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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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Indem ich ihm sagte, er solle eine Minute im Vorhaus warten, bis ich
ihn riefe, stieg ich die Treppe hinauf und öffnete die Thür zum Schlafzimmer.
Mein armer Freund lag hier, sein Körper ruhte auf dem Bette, sein Kopf
auf der Schulter seiner Frau, die neben dem Lager saß. Er athmete schwer,
aber die Blässe seines Gesichts, die geschlossenen Augen, die ausgestreckten
Arme, die schlaff vor ihm auf der Decke lagen, der blutige Schaum, den sie
ihm vom Munde wischte, alles kündigte seinen nahen Tod an.

Der gute Diener hatte seine Pflicht gethan, er hatte seinen Herrn herein¬
gebracht, damit er in den Armen seines Weibes sterbe. Die arme Frau war
zu sehr mit ihrer Pflicht beschäftigt, um die Oeffnung der Thür zu bemerken,
und da es besser war, das Kind wegzubringen, schloß ich sie leise wieder und
ging wieder nach dem Vorhause hinab, um den kleinen Arthur hinunterzu¬
bringen, wo die Magd sich geborgen hatte.

Zu spät! das Kind lag am Fuße der Stufen auf seinem Gesicht, seine
kleinen Arme ausgestreckt, sein Haar mit Blut überströmt. Ich hatte unter
anderm Geräusch den Knall nicht gehört, aber eine Granate war vor dem
Hause geplatzt, ein Splitter derselben war durch die offenstehende Thür herein¬
geflogen und hatte dem Kleinen den Hinterkopf weggerissen. Der Tod des
armen Kindes mußte auf der Stelle erfolgt sein. Ich versuchte die kleine
Leiche mit meinem einen Arme aufzuheben, aber selbst diese Last war zu viel
für mich, und während ich mich niederbeugte, sank ich in Ohnmacht.

Als ich wieder zur Besinnung kam, war es ganz dunkel, und eine Zeit
lang konnte ich nicht inne werden, wo ich mich befand. Ich lag in der That
eine Weile wie ein halb Schlafender und empfand keine Neigung, mich zu
bewegen. Nach und nach merkte ich, daß ich auf der mit Teppichen belegten
Diele eines Zimmers lag. Aller Schlachtlärm hatte aufgehört, aber dicht
neben mir hörte ich etwas, wie das Geräusch vieler Leute. Endlich richtete
ich mich zum Sitzen auf und allmählig erhob ich mich auf meine Füße.
Diese Bewegung machte mir heftigen Schmerz; denn meine Wunden hatten
sich jetzt furchtbar entzündet und meine an ihnen klebenden Kleider machten
sie furchtbar schmerzen. Endlich also stand-ich auf und tastete mich nach der
Thür hin. und indem ich dieselbe öffnete, sah ich sofort, wo ich war; denn
der Schmerz hatte mir das Bewußtsein wiedergegeben. Ich hatte in Travers'
kleiner Schreibstube gelegen am Ende des Ganges, in den ich eingetreten
war. Es war kein Gas und die Thür zur guten Stube war verschlossen.
Aber von dem offenen Speisezimmer her erleuchtete der Schimmer einer Kerze
matt das Borhaus, in welchem ein halb Dutzend schlafende Gestalten zu er¬
kennen waren, während das Zimmer selbst voll Menschen war. Der Tisch
war mit Tellern, Gläsern und Flaschen bedeckt, aber die Mehrzahl der Leute
war in den Stühlen oder auf der Diele eingeschlafen, einige rauchten Cigar-


Grenzliotcn l. 1871. 124

Indem ich ihm sagte, er solle eine Minute im Vorhaus warten, bis ich
ihn riefe, stieg ich die Treppe hinauf und öffnete die Thür zum Schlafzimmer.
Mein armer Freund lag hier, sein Körper ruhte auf dem Bette, sein Kopf
auf der Schulter seiner Frau, die neben dem Lager saß. Er athmete schwer,
aber die Blässe seines Gesichts, die geschlossenen Augen, die ausgestreckten
Arme, die schlaff vor ihm auf der Decke lagen, der blutige Schaum, den sie
ihm vom Munde wischte, alles kündigte seinen nahen Tod an.

Der gute Diener hatte seine Pflicht gethan, er hatte seinen Herrn herein¬
gebracht, damit er in den Armen seines Weibes sterbe. Die arme Frau war
zu sehr mit ihrer Pflicht beschäftigt, um die Oeffnung der Thür zu bemerken,
und da es besser war, das Kind wegzubringen, schloß ich sie leise wieder und
ging wieder nach dem Vorhause hinab, um den kleinen Arthur hinunterzu¬
bringen, wo die Magd sich geborgen hatte.

Zu spät! das Kind lag am Fuße der Stufen auf seinem Gesicht, seine
kleinen Arme ausgestreckt, sein Haar mit Blut überströmt. Ich hatte unter
anderm Geräusch den Knall nicht gehört, aber eine Granate war vor dem
Hause geplatzt, ein Splitter derselben war durch die offenstehende Thür herein¬
geflogen und hatte dem Kleinen den Hinterkopf weggerissen. Der Tod des
armen Kindes mußte auf der Stelle erfolgt sein. Ich versuchte die kleine
Leiche mit meinem einen Arme aufzuheben, aber selbst diese Last war zu viel
für mich, und während ich mich niederbeugte, sank ich in Ohnmacht.

Als ich wieder zur Besinnung kam, war es ganz dunkel, und eine Zeit
lang konnte ich nicht inne werden, wo ich mich befand. Ich lag in der That
eine Weile wie ein halb Schlafender und empfand keine Neigung, mich zu
bewegen. Nach und nach merkte ich, daß ich auf der mit Teppichen belegten
Diele eines Zimmers lag. Aller Schlachtlärm hatte aufgehört, aber dicht
neben mir hörte ich etwas, wie das Geräusch vieler Leute. Endlich richtete
ich mich zum Sitzen auf und allmählig erhob ich mich auf meine Füße.
Diese Bewegung machte mir heftigen Schmerz; denn meine Wunden hatten
sich jetzt furchtbar entzündet und meine an ihnen klebenden Kleider machten
sie furchtbar schmerzen. Endlich also stand-ich auf und tastete mich nach der
Thür hin. und indem ich dieselbe öffnete, sah ich sofort, wo ich war; denn
der Schmerz hatte mir das Bewußtsein wiedergegeben. Ich hatte in Travers'
kleiner Schreibstube gelegen am Ende des Ganges, in den ich eingetreten
war. Es war kein Gas und die Thür zur guten Stube war verschlossen.
Aber von dem offenen Speisezimmer her erleuchtete der Schimmer einer Kerze
matt das Borhaus, in welchem ein halb Dutzend schlafende Gestalten zu er¬
kennen waren, während das Zimmer selbst voll Menschen war. Der Tisch
war mit Tellern, Gläsern und Flaschen bedeckt, aber die Mehrzahl der Leute
war in den Stühlen oder auf der Diele eingeschlafen, einige rauchten Cigar-


Grenzliotcn l. 1871. 124
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/465>, abgerufen am 29.09.2024.