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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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Nation. Wir sagten dieß einander nicht, aber eine tiefe Niedergeschlagenheit
war über uns gekommen, die ohne Zweifel zum Theil von Schwäche und
Ermüdung herrührte, aber wir sahen, daß man im Begriffe war, noch einmal
Stand zu halten, und wir hatten kein Vertrauen mehr auf uns selbst. Konn¬
ten wir uns nicht behaupten, wenn wir in Linie eine gute Stellung inne
hatten, waren wir vom ersten Stoß in eine wirre Masse verwandelt worden,
welche Aussicht war da, daß wir gegen einen siegreichen Feind auf offenem
Terrain erfolgreich manövriren konnten?

Ein Gefühl der Verzweiflung bemächtigte sich unsrer, ein Entschluß,
gegen die Hoffnung zu kämpfen. Aber Besorgniß wegen der Zukunft des
Vaterlandes, wegen unsrer Freunde, wegen aller, die uns theuer waren, er¬
füllte unsre Gedanken jetzt, wo wir Zeit zum Nachdenken hatten. Wir hatten
keinerlei Nachrichten gehabt, seit Wood am Tage vorher zu uns gestoßen.
Wir wußten nicht, was in London vorging oder was die Regierung im
Sinne hatte, oder sonst etwas, und so erschöpft wir waren, empfanden wir
die heftigste Begierde, zu erfahren, was sich in andern Gegenden des Lan¬
des begab.

Unser General hatte hier Zufuhr von Nahrung und Schießbedarf zu
finden erwartet, aber es gab nichts der Art. Die meisten von uns hatten
keine Patronen mehr übrig, und so befahl er dem neben uns stehenden Re¬
giment, welches von Norden kam und noch nicht im Gefecht gewesen war,
uns so viel zu geben, daß jeder von den Mannschaften zwanzig Schuß thun
konnte; auch sandte er eine Fouragier-Abtheilung nach Kingston, um Pro¬
viant zu holen, während zu demselben Zweck ein Detachement nach den be¬
nachbarten Landhäusern abging. Sie sagten, die meisten Häuser wären leer,
und viele wären aller Eßwaaren beraubt und bereits stark verwüstet.

Es muß zwischen drei und vier Uhr gewesen sein, als der Donner der
Kanonen sich wieder vor uns vernehmen ließ und wir den Rauch der Geschütze
über den Wäldern von Esser und Clermont aufsteigen sehen konnten, und
bald nachher tauchten Truppen in den Feldern vor uns in der Tiefe auf.
Es war die Nachhut der regulären Soldaten. Es waren auch einige Geschütze
dabei, welche den Abhang heraufführen und rings um den Hügel aufgestellt
wurden. Es sollten drei Batterien sein, sie zählten aber zusammen nur acht
Kanonen. Hinter ihnen war die Linieninfanterie aufgestellt. Es war eine
Brigade, dem Anschein nach von vier Regimentern, aber das Ganze sah aus,
als ob es nicht mehr als acht oder neunhundert Mann zählte. Unser Regi¬
ment und ein zweites waren ein wenig zurückgenommen worden, um Raum
für sie zu machen, und bald darauf wurden wir hinunter beordert, um die
Eisenbahnstation hinter uns auf der Rechten zu besetzen.

Mein Bein war jetzt so steif, daß ich nicht mehr mit den Uebrigen mar-


Nation. Wir sagten dieß einander nicht, aber eine tiefe Niedergeschlagenheit
war über uns gekommen, die ohne Zweifel zum Theil von Schwäche und
Ermüdung herrührte, aber wir sahen, daß man im Begriffe war, noch einmal
Stand zu halten, und wir hatten kein Vertrauen mehr auf uns selbst. Konn¬
ten wir uns nicht behaupten, wenn wir in Linie eine gute Stellung inne
hatten, waren wir vom ersten Stoß in eine wirre Masse verwandelt worden,
welche Aussicht war da, daß wir gegen einen siegreichen Feind auf offenem
Terrain erfolgreich manövriren konnten?

Ein Gefühl der Verzweiflung bemächtigte sich unsrer, ein Entschluß,
gegen die Hoffnung zu kämpfen. Aber Besorgniß wegen der Zukunft des
Vaterlandes, wegen unsrer Freunde, wegen aller, die uns theuer waren, er¬
füllte unsre Gedanken jetzt, wo wir Zeit zum Nachdenken hatten. Wir hatten
keinerlei Nachrichten gehabt, seit Wood am Tage vorher zu uns gestoßen.
Wir wußten nicht, was in London vorging oder was die Regierung im
Sinne hatte, oder sonst etwas, und so erschöpft wir waren, empfanden wir
die heftigste Begierde, zu erfahren, was sich in andern Gegenden des Lan¬
des begab.

Unser General hatte hier Zufuhr von Nahrung und Schießbedarf zu
finden erwartet, aber es gab nichts der Art. Die meisten von uns hatten
keine Patronen mehr übrig, und so befahl er dem neben uns stehenden Re¬
giment, welches von Norden kam und noch nicht im Gefecht gewesen war,
uns so viel zu geben, daß jeder von den Mannschaften zwanzig Schuß thun
konnte; auch sandte er eine Fouragier-Abtheilung nach Kingston, um Pro¬
viant zu holen, während zu demselben Zweck ein Detachement nach den be¬
nachbarten Landhäusern abging. Sie sagten, die meisten Häuser wären leer,
und viele wären aller Eßwaaren beraubt und bereits stark verwüstet.

Es muß zwischen drei und vier Uhr gewesen sein, als der Donner der
Kanonen sich wieder vor uns vernehmen ließ und wir den Rauch der Geschütze
über den Wäldern von Esser und Clermont aufsteigen sehen konnten, und
bald nachher tauchten Truppen in den Feldern vor uns in der Tiefe auf.
Es war die Nachhut der regulären Soldaten. Es waren auch einige Geschütze
dabei, welche den Abhang heraufführen und rings um den Hügel aufgestellt
wurden. Es sollten drei Batterien sein, sie zählten aber zusammen nur acht
Kanonen. Hinter ihnen war die Linieninfanterie aufgestellt. Es war eine
Brigade, dem Anschein nach von vier Regimentern, aber das Ganze sah aus,
als ob es nicht mehr als acht oder neunhundert Mann zählte. Unser Regi¬
ment und ein zweites waren ein wenig zurückgenommen worden, um Raum
für sie zu machen, und bald darauf wurden wir hinunter beordert, um die
Eisenbahnstation hinter uns auf der Rechten zu besetzen.

Mein Bein war jetzt so steif, daß ich nicht mehr mit den Uebrigen mar-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/461>, abgerufen am 29.09.2024.