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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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gestapelt liegen möchten, und so war es auch, und gestern Abend empfing
ich von dem dortigen Stock Deine Briefe vom 30. März und 1. April. Da
sich nämlich unsere wahrhaft gletscherhaften Zustände in unbegreiflicher Weise
in die Länge zu ziehen scheinen, oder wenigstens bis jetzt in die Länge ge¬
zogen haben, so hat sich unser Buchhändler-Berein (Oereie as ig, Ilibrg.iris)
entschlossen, einen Postdienst zu organisiren, und vor einigen Tagen seinen
Secretär nach Versailles geschickt, wo derselbe vorläufig seine Residenz auf¬
schlägt, dort alle Tage auf der Post die Briefe für diejenigen Buchhändler,
die ihm Vollmacht dazu gaben, abholt, und einen Tag um den andern nach
Se. Denis geht, wo er einen andern Beamten des Cercle findet, dem er das
Packet übergibt, um es nach Paris hereinzubringen. Gestern Abend ist auf
diese Weise der erste Schub hereingekommen, und mit demselben empfing ich
Deine erwähnten zwei Briefe. Morgen früh soll die zweite Reise angetreten
werden, und der nach Se. Denis wandernde Bote wird die abgehenden Briefe
und darunter auch den gegenwärtigen mitnehmen, um sie dort aufzugeben.
Wenn Thurn und Taxis noch lebte, und diese PostWirthschaft trotz Dampf
und Telegraphen mit ansehen müßte, würde er seit 6 Monaten oft den Kopf
geschüttelt haben! -- Das Couvert mit den Banknoten habe ich nicht be¬
kommen, weil die Post, um declarirte Briefe auszuliefern, eine obrigkeit¬
lich beglaubigte Vollmacht verlangt, und wo foll man heute in Paris eine
obrigkeitliche Beglaubigung herbekommen! Es ist dieß weiter kein großes
Unglück, die Banknoten mögen in Versailles liegen bleiben, bis die Post
wieder nach Paris kommen kann, aber unter diesen Verhältnissen bist Du
doppelt gut inspirirt gewesen, daß Du mir den Wechsel nicht auch so, d. h.
in declarirtem Briefe geschickt hast, denn dann läge er auch "festgemauert in
der Erden" in der Schlachtengallerie von Versailles.

Wir leben jetzt hier seit 14 Tagen ziemlich einförmig. Tag und Nacht
Geschützfeuer, daß die Fenster klirren, und ohne Erfolg, wenigstens anschei¬
nend. Hie und da bekomme ich einen Zettel von meiner Compagnie zuge¬
schickt, mit der Aufforderung mich nun endlich ungesäumt zum Dienste einzu-
finden, bei Androhung von Entwaffnung, Arrestation und Stellung vor ein
Kriegsgericht, aber ich pfeife den Kerls eins und rühre mich nicht; wenn sie
mich einstecken, ist es mir auch recht, ich liebe die Abenteuer. Das Beste
dabei ist, daß ich eigentlich, als noch nicht 40 Jahre alt (noch nicht, aber
bald!), nach Cluseret's Decret zur activen Nationalgarde gehöre, also statt
in der Rue nes Lsaux-^res an meinem Schreibtisch zu sitzen, auf einem der
Südsorts stehen, oder in Neuillv mit den Gendarmen mich herumkeilen sollte.
Ich bin neugierig, wer Recht behalten wird, ob ich, oder Cluseret. Ich denke
immer, er wird noch eher gehängt als ich. -- Die Pariser sind ein gro߬
artiges Volk. .Jeden Nachmittag gehe ich jetzt ein Stündchen nach den Champs


gestapelt liegen möchten, und so war es auch, und gestern Abend empfing
ich von dem dortigen Stock Deine Briefe vom 30. März und 1. April. Da
sich nämlich unsere wahrhaft gletscherhaften Zustände in unbegreiflicher Weise
in die Länge zu ziehen scheinen, oder wenigstens bis jetzt in die Länge ge¬
zogen haben, so hat sich unser Buchhändler-Berein (Oereie as ig, Ilibrg.iris)
entschlossen, einen Postdienst zu organisiren, und vor einigen Tagen seinen
Secretär nach Versailles geschickt, wo derselbe vorläufig seine Residenz auf¬
schlägt, dort alle Tage auf der Post die Briefe für diejenigen Buchhändler,
die ihm Vollmacht dazu gaben, abholt, und einen Tag um den andern nach
Se. Denis geht, wo er einen andern Beamten des Cercle findet, dem er das
Packet übergibt, um es nach Paris hereinzubringen. Gestern Abend ist auf
diese Weise der erste Schub hereingekommen, und mit demselben empfing ich
Deine erwähnten zwei Briefe. Morgen früh soll die zweite Reise angetreten
werden, und der nach Se. Denis wandernde Bote wird die abgehenden Briefe
und darunter auch den gegenwärtigen mitnehmen, um sie dort aufzugeben.
Wenn Thurn und Taxis noch lebte, und diese PostWirthschaft trotz Dampf
und Telegraphen mit ansehen müßte, würde er seit 6 Monaten oft den Kopf
geschüttelt haben! — Das Couvert mit den Banknoten habe ich nicht be¬
kommen, weil die Post, um declarirte Briefe auszuliefern, eine obrigkeit¬
lich beglaubigte Vollmacht verlangt, und wo foll man heute in Paris eine
obrigkeitliche Beglaubigung herbekommen! Es ist dieß weiter kein großes
Unglück, die Banknoten mögen in Versailles liegen bleiben, bis die Post
wieder nach Paris kommen kann, aber unter diesen Verhältnissen bist Du
doppelt gut inspirirt gewesen, daß Du mir den Wechsel nicht auch so, d. h.
in declarirtem Briefe geschickt hast, denn dann läge er auch „festgemauert in
der Erden" in der Schlachtengallerie von Versailles.

Wir leben jetzt hier seit 14 Tagen ziemlich einförmig. Tag und Nacht
Geschützfeuer, daß die Fenster klirren, und ohne Erfolg, wenigstens anschei¬
nend. Hie und da bekomme ich einen Zettel von meiner Compagnie zuge¬
schickt, mit der Aufforderung mich nun endlich ungesäumt zum Dienste einzu-
finden, bei Androhung von Entwaffnung, Arrestation und Stellung vor ein
Kriegsgericht, aber ich pfeife den Kerls eins und rühre mich nicht; wenn sie
mich einstecken, ist es mir auch recht, ich liebe die Abenteuer. Das Beste
dabei ist, daß ich eigentlich, als noch nicht 40 Jahre alt (noch nicht, aber
bald!), nach Cluseret's Decret zur activen Nationalgarde gehöre, also statt
in der Rue nes Lsaux-^res an meinem Schreibtisch zu sitzen, auf einem der
Südsorts stehen, oder in Neuillv mit den Gendarmen mich herumkeilen sollte.
Ich bin neugierig, wer Recht behalten wird, ob ich, oder Cluseret. Ich denke
immer, er wird noch eher gehängt als ich. — Die Pariser sind ein gro߬
artiges Volk. .Jeden Nachmittag gehe ich jetzt ein Stündchen nach den Champs


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[0410] gestapelt liegen möchten, und so war es auch, und gestern Abend empfing ich von dem dortigen Stock Deine Briefe vom 30. März und 1. April. Da sich nämlich unsere wahrhaft gletscherhaften Zustände in unbegreiflicher Weise in die Länge zu ziehen scheinen, oder wenigstens bis jetzt in die Länge ge¬ zogen haben, so hat sich unser Buchhändler-Berein (Oereie as ig, Ilibrg.iris) entschlossen, einen Postdienst zu organisiren, und vor einigen Tagen seinen Secretär nach Versailles geschickt, wo derselbe vorläufig seine Residenz auf¬ schlägt, dort alle Tage auf der Post die Briefe für diejenigen Buchhändler, die ihm Vollmacht dazu gaben, abholt, und einen Tag um den andern nach Se. Denis geht, wo er einen andern Beamten des Cercle findet, dem er das Packet übergibt, um es nach Paris hereinzubringen. Gestern Abend ist auf diese Weise der erste Schub hereingekommen, und mit demselben empfing ich Deine erwähnten zwei Briefe. Morgen früh soll die zweite Reise angetreten werden, und der nach Se. Denis wandernde Bote wird die abgehenden Briefe und darunter auch den gegenwärtigen mitnehmen, um sie dort aufzugeben. Wenn Thurn und Taxis noch lebte, und diese PostWirthschaft trotz Dampf und Telegraphen mit ansehen müßte, würde er seit 6 Monaten oft den Kopf geschüttelt haben! — Das Couvert mit den Banknoten habe ich nicht be¬ kommen, weil die Post, um declarirte Briefe auszuliefern, eine obrigkeit¬ lich beglaubigte Vollmacht verlangt, und wo foll man heute in Paris eine obrigkeitliche Beglaubigung herbekommen! Es ist dieß weiter kein großes Unglück, die Banknoten mögen in Versailles liegen bleiben, bis die Post wieder nach Paris kommen kann, aber unter diesen Verhältnissen bist Du doppelt gut inspirirt gewesen, daß Du mir den Wechsel nicht auch so, d. h. in declarirtem Briefe geschickt hast, denn dann läge er auch „festgemauert in der Erden" in der Schlachtengallerie von Versailles. Wir leben jetzt hier seit 14 Tagen ziemlich einförmig. Tag und Nacht Geschützfeuer, daß die Fenster klirren, und ohne Erfolg, wenigstens anschei¬ nend. Hie und da bekomme ich einen Zettel von meiner Compagnie zuge¬ schickt, mit der Aufforderung mich nun endlich ungesäumt zum Dienste einzu- finden, bei Androhung von Entwaffnung, Arrestation und Stellung vor ein Kriegsgericht, aber ich pfeife den Kerls eins und rühre mich nicht; wenn sie mich einstecken, ist es mir auch recht, ich liebe die Abenteuer. Das Beste dabei ist, daß ich eigentlich, als noch nicht 40 Jahre alt (noch nicht, aber bald!), nach Cluseret's Decret zur activen Nationalgarde gehöre, also statt in der Rue nes Lsaux-^res an meinem Schreibtisch zu sitzen, auf einem der Südsorts stehen, oder in Neuillv mit den Gendarmen mich herumkeilen sollte. Ich bin neugierig, wer Recht behalten wird, ob ich, oder Cluseret. Ich denke immer, er wird noch eher gehängt als ich. — Die Pariser sind ein gro߬ artiges Volk. .Jeden Nachmittag gehe ich jetzt ein Stündchen nach den Champs

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/410>, abgerufen am 28.09.2024.