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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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genießen oder zu erwarten haben, lediglich der Anregung unserer central-
deutschen Executive und Legislative zu danken ist. Preußen als solches war
seit 1850 überhaupt kein harmonischer Staat; was durch straffe Administra¬
tion geschaffen war, ließ sich nach Maechiavelli's ewig wahrem Ausspruch auch
nur durch die gleichen Mittel erhalten. Die natürliche Einheit, welche
für das Gedeihen parlamentarischer Einrichtungen erforderlich, fehlt in
diesen acht so künstlich aneinander gesetzten Provinzen. Erst durch terri¬
toriale und nationale Abrundung des preußischen Volks, wie sie 1866
und 1870 eingetreten ist, wird ein gesundes parlamentarisches Leben mög¬
lich. Und ebenso wie das Gebiet, über welches der Hohenzollern Scepter sich
erstreckt, erst gegenwärtig als deutsches Reich wieder fähig ist, einen auf der
Höhe seiner Zeit stehenden modernen Staat auszumachen -- wird vor allem
Berlin selber erst jetzt durch den Zutritt frischer Elemente in Stand gesetzt
werden, sich aus dem Marasmus seiner politischen Anschauungen aufzuraffen
und den Rang einer deutschen Hauptstadt würdig auszufüllen.

Ich schreibe dies in Erinnerung an den dritten März. Wie wohlgemeint
ließ sich doch neulich vor den Wahlen unser jetziges ReichStagsmitglied Hr.
v. Treitschke vernehmen: die Zeit sei hoffentlich auf immer vorüber, in welcher
derselbe Mann noch fröhlichen Herzens gesungen habe, "Für seinen König
stirbt der Preuße gern", um einem radicalen Neinsager gleich darauf seine
Stimme zu geben. Nun, wie der dritte März bewiesen hat, wir Berliner
stehen noch mitten in dieser Zeit. Wahrhaft prächtig war die Fnedens-
Jllumination der Kaiserstadt; auch die am selben Tage um vier Uhr Nach¬
mittags für einen Friedensgottesdienst geöffneten Kirchen waren stärker ge¬
füllt als wohl je zuvor; aber nichts desto weniger gehören 90 Procent der
in die schöngeformten Wahlurnen zwischen 10 Uhr Morgens und 6 Uhr
Abends geworfenen Stimmzettel den negativen Parteien unserer Linken, jener
nicht nur vom "Bürger- und Bauernfreund," sondern auch von andern demo¬
kratischen Blättern auf den Schild gehobenen Trinität: "Fortschritt, Volks¬
partei, Socialdemokratie." Ja, Berlin ist in den letzten Jahren radicaler ge¬
worden, denn wenn es im Februar 1867 noch verschiedene Nationallibcrale
gewählt hat, im Herbst 1867 aber die Stimmen des Fortschritts gegenüber
Nationalliberalen und Conservativen 74 Procent betrugen, so fielen diesmal
auf die Candidaten des Fortschritts 65,2 Procent der Stimmen, auf den
"Volksmann" Jacoby (so heruntergekommen sind wir in dieser Beziehung:
aus der Zeit des Conflicts stammt ein in allen Berliner Kneipen hängendes
Bild mit 35 Männern des Volks, jetzt haben wir deren nur noch Einen)
aber 16.3 Procent, und auf den Socialdemokraten August Grau 5,1 Proc.
aller Berliner Stimmen. Der letztere ist für Sie wohl ein dunkler Ehren¬
mann; aber die auf seinen Namen gedruckten Stimmzettel verewigen ihn für


Grenzboten I. 1871. 70

genießen oder zu erwarten haben, lediglich der Anregung unserer central-
deutschen Executive und Legislative zu danken ist. Preußen als solches war
seit 1850 überhaupt kein harmonischer Staat; was durch straffe Administra¬
tion geschaffen war, ließ sich nach Maechiavelli's ewig wahrem Ausspruch auch
nur durch die gleichen Mittel erhalten. Die natürliche Einheit, welche
für das Gedeihen parlamentarischer Einrichtungen erforderlich, fehlt in
diesen acht so künstlich aneinander gesetzten Provinzen. Erst durch terri¬
toriale und nationale Abrundung des preußischen Volks, wie sie 1866
und 1870 eingetreten ist, wird ein gesundes parlamentarisches Leben mög¬
lich. Und ebenso wie das Gebiet, über welches der Hohenzollern Scepter sich
erstreckt, erst gegenwärtig als deutsches Reich wieder fähig ist, einen auf der
Höhe seiner Zeit stehenden modernen Staat auszumachen — wird vor allem
Berlin selber erst jetzt durch den Zutritt frischer Elemente in Stand gesetzt
werden, sich aus dem Marasmus seiner politischen Anschauungen aufzuraffen
und den Rang einer deutschen Hauptstadt würdig auszufüllen.

Ich schreibe dies in Erinnerung an den dritten März. Wie wohlgemeint
ließ sich doch neulich vor den Wahlen unser jetziges ReichStagsmitglied Hr.
v. Treitschke vernehmen: die Zeit sei hoffentlich auf immer vorüber, in welcher
derselbe Mann noch fröhlichen Herzens gesungen habe, „Für seinen König
stirbt der Preuße gern", um einem radicalen Neinsager gleich darauf seine
Stimme zu geben. Nun, wie der dritte März bewiesen hat, wir Berliner
stehen noch mitten in dieser Zeit. Wahrhaft prächtig war die Fnedens-
Jllumination der Kaiserstadt; auch die am selben Tage um vier Uhr Nach¬
mittags für einen Friedensgottesdienst geöffneten Kirchen waren stärker ge¬
füllt als wohl je zuvor; aber nichts desto weniger gehören 90 Procent der
in die schöngeformten Wahlurnen zwischen 10 Uhr Morgens und 6 Uhr
Abends geworfenen Stimmzettel den negativen Parteien unserer Linken, jener
nicht nur vom „Bürger- und Bauernfreund," sondern auch von andern demo¬
kratischen Blättern auf den Schild gehobenen Trinität: „Fortschritt, Volks¬
partei, Socialdemokratie." Ja, Berlin ist in den letzten Jahren radicaler ge¬
worden, denn wenn es im Februar 1867 noch verschiedene Nationallibcrale
gewählt hat, im Herbst 1867 aber die Stimmen des Fortschritts gegenüber
Nationalliberalen und Conservativen 74 Procent betrugen, so fielen diesmal
auf die Candidaten des Fortschritts 65,2 Procent der Stimmen, auf den
«Volksmann" Jacoby (so heruntergekommen sind wir in dieser Beziehung:
aus der Zeit des Conflicts stammt ein in allen Berliner Kneipen hängendes
Bild mit 35 Männern des Volks, jetzt haben wir deren nur noch Einen)
aber 16.3 Procent, und auf den Socialdemokraten August Grau 5,1 Proc.
aller Berliner Stimmen. Der letztere ist für Sie wohl ein dunkler Ehren¬
mann; aber die auf seinen Namen gedruckten Stimmzettel verewigen ihn für


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/33>, abgerufen am 21.10.2024.