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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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durch deutsche Studenten, ja durch Handwerker und sogar durch Dienstmägde statt¬
gefunden habe. Wie erklärt man dabei die Thatsache, daß man uns in Frankreich
nach wie vor Barbaren nennt, daß sie, die selbst anerkennen, uns in Wissenschaft,
allgemeiner Schulbildung, in Gesittung des gemeinen Mannes, in Kriegs¬
kunst, staatsmännischer Befähigung und allgemeiner Lebensklugheit nachzustehen,
sich trotzdem herausnehmen, sich über uns erhaben zu dünken als Leute,
welche mehr Bildung besitzen? denn Bildung ist der Gegensatz von Barbarei.

Wer einseitig sein und sich mit einer oberflächlichen Erklärung begnügen
will, kann sagen, die Masse der französischen Bevölkerung sei zu unwissend,
um unsre Vorzüge erkennen zu können; er kann auf die alten Griechen hin¬
weisen, welche alle Nichtgriechen Barbaren nannten, oder auf die Chinesen,
welche noch jetzt die europäischen Völker mit einem diesem Namen entsprechen¬
den Worte bezeichnen. Derjenige aber, welcher der Sache weiter auf den
Grund gehen will, wird, wenn er Gelegenheit gehabt hat, häufig mit Fran¬
zosen, Italienern, Spaniern oder anderen romanischen Völkern zusammenzu¬
treffen, ohne Schwierigkeit eine richtigere Erklärungsweise auffinden. Ihm ist
bekannt, daß die Romanen, denen wir in allen bedeutenderen Eigenschaften
voraus sind, uns in einem einzigen Punkte übertreffen, und daß dieser Um¬
stand für ihre unwissende Anmaßung genügt, um uns Barbaren zu schelten.

Alle diese Völker sind nämlich durchgängig physisch schwächer als die ger¬
manische Race, sie sind ihr an Geisteskraft, wenn ebenbürtig, sicher nicht
überlegen, aber sie besitzen sämmtlich mehr Gewandtheit und äußere Abge-
schliffenheit im Umgange als diese, übertreffen sie an Feinheit der Manieren,
an sogenannter guter Lebensart, und da diese letztere sich sofort in der ganzen
äußern Erscheinung des Menschen zeigt, während seine inneren Eigenschaften,
sein sittlicher Werth, sein Verstand, sein Wissen, seine Willenskraft erst nach und nach
in ihren Wirkungen zum Vorschein kommen und einen gewissen Grad der höheren
Bildung, der reiferen Urtheilskraft aus Seiten des Beschauers erfordern, um
überall Geltung zu finden, so haben sie von vornherein den Vortheil, daß
ihre erste Erscheinung, ihr erstes Auftreten einen mehr ansprechenden, günstigeren
Eindruck macht, als das der Leute von germanischer Abkunft, deren Ernst,
deren Zurückhaltung oder Mangel an feiner Lebensart häufig zuerst nicht günstig
für sie sprechen. Es darf nicht erst hervorgehoben werden, daß jenen inneren Eigen¬
schaften in der Wirklichkeit ein höherer Werth eigen ist, als diesen äußeren. Aber
es ist ohne Zweifel eine einseitige Auffassung, wenn man in den letzteren einen
zu geringen Werth erkennen und sie darüber vernachlässigen will.

Sieht man in einer Gesellschaft einen gelehrten Mann aus der Provinz,
vielleicht einen tiefen Denker, welcher eben deßhalb sich gewöhnt hat, alle Aeußer-


Grmzbotcn I. 1871. 105

durch deutsche Studenten, ja durch Handwerker und sogar durch Dienstmägde statt¬
gefunden habe. Wie erklärt man dabei die Thatsache, daß man uns in Frankreich
nach wie vor Barbaren nennt, daß sie, die selbst anerkennen, uns in Wissenschaft,
allgemeiner Schulbildung, in Gesittung des gemeinen Mannes, in Kriegs¬
kunst, staatsmännischer Befähigung und allgemeiner Lebensklugheit nachzustehen,
sich trotzdem herausnehmen, sich über uns erhaben zu dünken als Leute,
welche mehr Bildung besitzen? denn Bildung ist der Gegensatz von Barbarei.

Wer einseitig sein und sich mit einer oberflächlichen Erklärung begnügen
will, kann sagen, die Masse der französischen Bevölkerung sei zu unwissend,
um unsre Vorzüge erkennen zu können; er kann auf die alten Griechen hin¬
weisen, welche alle Nichtgriechen Barbaren nannten, oder auf die Chinesen,
welche noch jetzt die europäischen Völker mit einem diesem Namen entsprechen¬
den Worte bezeichnen. Derjenige aber, welcher der Sache weiter auf den
Grund gehen will, wird, wenn er Gelegenheit gehabt hat, häufig mit Fran¬
zosen, Italienern, Spaniern oder anderen romanischen Völkern zusammenzu¬
treffen, ohne Schwierigkeit eine richtigere Erklärungsweise auffinden. Ihm ist
bekannt, daß die Romanen, denen wir in allen bedeutenderen Eigenschaften
voraus sind, uns in einem einzigen Punkte übertreffen, und daß dieser Um¬
stand für ihre unwissende Anmaßung genügt, um uns Barbaren zu schelten.

Alle diese Völker sind nämlich durchgängig physisch schwächer als die ger¬
manische Race, sie sind ihr an Geisteskraft, wenn ebenbürtig, sicher nicht
überlegen, aber sie besitzen sämmtlich mehr Gewandtheit und äußere Abge-
schliffenheit im Umgange als diese, übertreffen sie an Feinheit der Manieren,
an sogenannter guter Lebensart, und da diese letztere sich sofort in der ganzen
äußern Erscheinung des Menschen zeigt, während seine inneren Eigenschaften,
sein sittlicher Werth, sein Verstand, sein Wissen, seine Willenskraft erst nach und nach
in ihren Wirkungen zum Vorschein kommen und einen gewissen Grad der höheren
Bildung, der reiferen Urtheilskraft aus Seiten des Beschauers erfordern, um
überall Geltung zu finden, so haben sie von vornherein den Vortheil, daß
ihre erste Erscheinung, ihr erstes Auftreten einen mehr ansprechenden, günstigeren
Eindruck macht, als das der Leute von germanischer Abkunft, deren Ernst,
deren Zurückhaltung oder Mangel an feiner Lebensart häufig zuerst nicht günstig
für sie sprechen. Es darf nicht erst hervorgehoben werden, daß jenen inneren Eigen¬
schaften in der Wirklichkeit ein höherer Werth eigen ist, als diesen äußeren. Aber
es ist ohne Zweifel eine einseitige Auffassung, wenn man in den letzteren einen
zu geringen Werth erkennen und sie darüber vernachlässigen will.

Sieht man in einer Gesellschaft einen gelehrten Mann aus der Provinz,
vielleicht einen tiefen Denker, welcher eben deßhalb sich gewöhnt hat, alle Aeußer-


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[0313] durch deutsche Studenten, ja durch Handwerker und sogar durch Dienstmägde statt¬ gefunden habe. Wie erklärt man dabei die Thatsache, daß man uns in Frankreich nach wie vor Barbaren nennt, daß sie, die selbst anerkennen, uns in Wissenschaft, allgemeiner Schulbildung, in Gesittung des gemeinen Mannes, in Kriegs¬ kunst, staatsmännischer Befähigung und allgemeiner Lebensklugheit nachzustehen, sich trotzdem herausnehmen, sich über uns erhaben zu dünken als Leute, welche mehr Bildung besitzen? denn Bildung ist der Gegensatz von Barbarei. Wer einseitig sein und sich mit einer oberflächlichen Erklärung begnügen will, kann sagen, die Masse der französischen Bevölkerung sei zu unwissend, um unsre Vorzüge erkennen zu können; er kann auf die alten Griechen hin¬ weisen, welche alle Nichtgriechen Barbaren nannten, oder auf die Chinesen, welche noch jetzt die europäischen Völker mit einem diesem Namen entsprechen¬ den Worte bezeichnen. Derjenige aber, welcher der Sache weiter auf den Grund gehen will, wird, wenn er Gelegenheit gehabt hat, häufig mit Fran¬ zosen, Italienern, Spaniern oder anderen romanischen Völkern zusammenzu¬ treffen, ohne Schwierigkeit eine richtigere Erklärungsweise auffinden. Ihm ist bekannt, daß die Romanen, denen wir in allen bedeutenderen Eigenschaften voraus sind, uns in einem einzigen Punkte übertreffen, und daß dieser Um¬ stand für ihre unwissende Anmaßung genügt, um uns Barbaren zu schelten. Alle diese Völker sind nämlich durchgängig physisch schwächer als die ger¬ manische Race, sie sind ihr an Geisteskraft, wenn ebenbürtig, sicher nicht überlegen, aber sie besitzen sämmtlich mehr Gewandtheit und äußere Abge- schliffenheit im Umgange als diese, übertreffen sie an Feinheit der Manieren, an sogenannter guter Lebensart, und da diese letztere sich sofort in der ganzen äußern Erscheinung des Menschen zeigt, während seine inneren Eigenschaften, sein sittlicher Werth, sein Verstand, sein Wissen, seine Willenskraft erst nach und nach in ihren Wirkungen zum Vorschein kommen und einen gewissen Grad der höheren Bildung, der reiferen Urtheilskraft aus Seiten des Beschauers erfordern, um überall Geltung zu finden, so haben sie von vornherein den Vortheil, daß ihre erste Erscheinung, ihr erstes Auftreten einen mehr ansprechenden, günstigeren Eindruck macht, als das der Leute von germanischer Abkunft, deren Ernst, deren Zurückhaltung oder Mangel an feiner Lebensart häufig zuerst nicht günstig für sie sprechen. Es darf nicht erst hervorgehoben werden, daß jenen inneren Eigen¬ schaften in der Wirklichkeit ein höherer Werth eigen ist, als diesen äußeren. Aber es ist ohne Zweifel eine einseitige Auffassung, wenn man in den letzteren einen zu geringen Werth erkennen und sie darüber vernachlässigen will. Sieht man in einer Gesellschaft einen gelehrten Mann aus der Provinz, vielleicht einen tiefen Denker, welcher eben deßhalb sich gewöhnt hat, alle Aeußer- Grmzbotcn I. 1871. 105

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/313>, abgerufen am 28.09.2024.