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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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tagssession einzubringen. Die Fortschrittspartei hatte im Norddeutschen
Reichstag erklärt, mit einem solchen Antrag in jeder Session hervortreten
zu wollen und die Fortschrittspartei bestand aus Leuten, welchen es niemals
auf die richtige Benutzung einer gegebenen Lage, sondern auf die von den
Weltzuständen unabhängige Geltendmachung seligmachender Dogmen ankommt,
gerade wie der römischen Curie. Sonst hätten sich wohl Gründe genug be¬
merken lassen, welche die Vorbringung des Antrags in der ersten Reichstags¬
session widerriethen. Sehr wahr hatte der Abgeordnete Laster bei der Ver¬
handlung über die Redaction der Berfassungsverträge in ein einheitliches Gesetz
bemerkt, daß jede Entwickelung der Ruhepunkte bedürfe, um die erlangten
Ergebnisse periodisch sich befestigen zu lassen. Ohne dies gibt es keine Ent¬
wickelung , sondern den leeren Schein einer Bewegung. Nun bedarf gewiß
diese mühsam vereinbarte, durch so seltene Ereignisse möglich gewordene Reichs-
verfassung eines solchen Ruhepunktes. Es ist dringend nöthig, daß diese
mannichfaltigen, bis vor Kurzem einander so widerstrebenden Elemente des
deutschen Staatslebens, welche die Reichsverfassung zum einheitlichen Arbeiten
beruft, sich an den Boden, auf dem sie zusammenwirken sollen, gewöhnen;
es ist nöthig, daß sie diesen Boden als einen festen betrachten lernen, der
nicht des ersten besten Tages unter den Füßen schwindet. Wie soll aber
diese Gewohnheit, dieser Glaube und diese Achtung des Grundgesetzes sich ein¬
bürgern, wenn das Gesetz an demselben Tage, wo es verkündet worden,
wieder in Frage gestellt wird? Die klugen Herren von der Fortschrittspartei
halten die Bestimmung von Diäten für eine einfache Zugabe, die sozusagen
eine Verbesserung, aber keine Aenderung ist. Ob aber die Einführung von
Diäten nicht den Reichstag, also das wichtigste Verfassungsorgan neben dem
Bundesrath, wesentlich ändert, ist mindestens sehr zweifelhaft. Die verbün¬
deten Regierungen handeln nur nach den Regeln der Vorsicht, wenn sie die
Einführung von Diäten für eine folgenreiche Maßregel erachten, für eine
Maßregel, die bedeutende Folgen mindestens haben kann. Sollte also die
Einführung der Diäten ernstlich in Betracht gezogen werden, so müßte auch
die Modalität des allgemeinen Stimmrechtes aufs Neue geprüft werden. Man
müßte untersuchen, ob sich nicht offene Stimmabgabe und indirecte Wahl
empfiehlt, desgleichen Ausschließung der Beamten vom passiven Wahlrecht
und vielleicht noch manches Andere. Es ist doch sehr naiv, wenn Herr
Schulze-Delitzsch glaubt, nur er und seine Anhänger, oder auch die Majorität
des Reichstages können die Verfassung in Frage stellen, der Bundesrath aber
dürfe dies nicht. Herr Schulze-Delitzsch irrt, wenn er glaubt, die Zweifel an
der Wohlthätigkeit des allgemeinen Stimmrechts und seiner jetzigen Modalität
seien bereits allerwärts überwunden. Die Zahl der Zweifler scheint uns eher
zu- als abzunehmen. Auffällig ist jedenfalls der geringe Procentsatz, in


tagssession einzubringen. Die Fortschrittspartei hatte im Norddeutschen
Reichstag erklärt, mit einem solchen Antrag in jeder Session hervortreten
zu wollen und die Fortschrittspartei bestand aus Leuten, welchen es niemals
auf die richtige Benutzung einer gegebenen Lage, sondern auf die von den
Weltzuständen unabhängige Geltendmachung seligmachender Dogmen ankommt,
gerade wie der römischen Curie. Sonst hätten sich wohl Gründe genug be¬
merken lassen, welche die Vorbringung des Antrags in der ersten Reichstags¬
session widerriethen. Sehr wahr hatte der Abgeordnete Laster bei der Ver¬
handlung über die Redaction der Berfassungsverträge in ein einheitliches Gesetz
bemerkt, daß jede Entwickelung der Ruhepunkte bedürfe, um die erlangten
Ergebnisse periodisch sich befestigen zu lassen. Ohne dies gibt es keine Ent¬
wickelung , sondern den leeren Schein einer Bewegung. Nun bedarf gewiß
diese mühsam vereinbarte, durch so seltene Ereignisse möglich gewordene Reichs-
verfassung eines solchen Ruhepunktes. Es ist dringend nöthig, daß diese
mannichfaltigen, bis vor Kurzem einander so widerstrebenden Elemente des
deutschen Staatslebens, welche die Reichsverfassung zum einheitlichen Arbeiten
beruft, sich an den Boden, auf dem sie zusammenwirken sollen, gewöhnen;
es ist nöthig, daß sie diesen Boden als einen festen betrachten lernen, der
nicht des ersten besten Tages unter den Füßen schwindet. Wie soll aber
diese Gewohnheit, dieser Glaube und diese Achtung des Grundgesetzes sich ein¬
bürgern, wenn das Gesetz an demselben Tage, wo es verkündet worden,
wieder in Frage gestellt wird? Die klugen Herren von der Fortschrittspartei
halten die Bestimmung von Diäten für eine einfache Zugabe, die sozusagen
eine Verbesserung, aber keine Aenderung ist. Ob aber die Einführung von
Diäten nicht den Reichstag, also das wichtigste Verfassungsorgan neben dem
Bundesrath, wesentlich ändert, ist mindestens sehr zweifelhaft. Die verbün¬
deten Regierungen handeln nur nach den Regeln der Vorsicht, wenn sie die
Einführung von Diäten für eine folgenreiche Maßregel erachten, für eine
Maßregel, die bedeutende Folgen mindestens haben kann. Sollte also die
Einführung der Diäten ernstlich in Betracht gezogen werden, so müßte auch
die Modalität des allgemeinen Stimmrechtes aufs Neue geprüft werden. Man
müßte untersuchen, ob sich nicht offene Stimmabgabe und indirecte Wahl
empfiehlt, desgleichen Ausschließung der Beamten vom passiven Wahlrecht
und vielleicht noch manches Andere. Es ist doch sehr naiv, wenn Herr
Schulze-Delitzsch glaubt, nur er und seine Anhänger, oder auch die Majorität
des Reichstages können die Verfassung in Frage stellen, der Bundesrath aber
dürfe dies nicht. Herr Schulze-Delitzsch irrt, wenn er glaubt, die Zweifel an
der Wohlthätigkeit des allgemeinen Stimmrechts und seiner jetzigen Modalität
seien bereits allerwärts überwunden. Die Zahl der Zweifler scheint uns eher
zu- als abzunehmen. Auffällig ist jedenfalls der geringe Procentsatz, in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/206>, abgerufen am 28.09.2024.