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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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und natürlich. Denn man wandelt nicht ungestraft unter Palmen. Ihr
hattet in "Dütschland" mit studirt; das Studium der neuesten deutschen Lite¬
ratur auf dem Gebiete aller Facultäten war Euch Bedürfniß geworden, und
damit soge Ihr unmerklich das Verständniß unsrer politischen Lage vor 1870
ein. Denn der gelehrteste Deutsche und der begnadetste deutsche Dichter kann
das Politisiren nicht lassen, mindestens nicht das Kannegießern; dafür waren
wir bisher eben ein unfertiges Volk, das jeder schreibende Deutsche fertig zu
machen strebte. Selbst der alte Ewald in Göttingen läßt keinem seiner auf
hebräische Culturgeschichte eingeschriebenen Zuhörer den Leidenskelch seiner
Vorlesungen vorübergehen, ohne einen Tropfen welfischen Giftes hineinzu¬
spritzen -- womit wir diesen Hebräer indessen keineswegs unter die gelehrtesten
Deutschen oder die begnadetsten Dichter zählen wollen.

Wenn Ihr also durch Eure Studien und Neigungen zu einer ruhigen
Würdigung unsrer Verhältnisse gedrängt wurdet, so durfte man wohl fragen,
was die große Majorität der Schweizer gegen uns und unsre leitende Macht
schon vor 1870 so wunderlich erbost hatte. Wir hatten doch gerade keine
besonderen Proben feindseliger Gesinnung gegen die Schweiz abgegeben. In
allen diplomatischen Aetionen, welche der Schweiz seit zwanzig Jahren be-
schieden waren, hat sie unter den europäischen Großmächten von Preußen den
wärmsten Beistand erfahren: so im Jahr 18S3 bei der frivolen östreichischen
Grenzsperre und Ausweisung der Tessiner dadurch, daß Preußen dem k. k.
Versuche, das schweizerische Asylrecht zu beugen, widerstrebte; so im Dappen-
thal-Handel und der Savoyer Frage; und überall wäre die Unterstützung der
Schweizer Anschauungen unsrerseits noch erheblich kräftiger ausgefallen, wenn
wir damals schon den Staatsmann an der Spitze unsrer deutschen Vormacht
gesehen hätten, dessen Verwünschung heute der ganz überwiegenden Mehrheit
Eures Volkes für ein besonderes Kennzeichen politischer Reife gilt. Selbst
in dem einzigen Falle, wo schweizerische und preußische Interessen direct ge¬
genüberstanden, in der Neuenburger Frage, haben wir uns begnügt, die Be¬
gnadigung der Freunde Preußens im Canton Neuenburg als Gegenleistung
für unsern Verzicht auf den strengen Buchstaben des dynastischen Souveräne-
tätsrechts zu fordern. Ich bemerke beiläufig, daß auch in diesem Falle die
Schweiz die definitive Ordnung der staatsrechtlichen Verhältnisse des Cantons
Neuenburg unter der Ministerpräsidentschaft eines Bismarck ohne Zweifel
nicht schwerer erlangt haben würde, als unter dem damaligen preußischen Re¬
gime. Denn selbst ein so starres Rechtsgefühl wie dasjenige Robert von
Mohl's äußert am Schlüsse seiner Bemerkungen über die staatsrechtliche Ord¬
nung in Neuenburg, nachdem er das "zweifellose Recht der Könige von
Preußen auf die Regierung in Neuenburg" dargethan hat: "was echte Staats-


und natürlich. Denn man wandelt nicht ungestraft unter Palmen. Ihr
hattet in „Dütschland" mit studirt; das Studium der neuesten deutschen Lite¬
ratur auf dem Gebiete aller Facultäten war Euch Bedürfniß geworden, und
damit soge Ihr unmerklich das Verständniß unsrer politischen Lage vor 1870
ein. Denn der gelehrteste Deutsche und der begnadetste deutsche Dichter kann
das Politisiren nicht lassen, mindestens nicht das Kannegießern; dafür waren
wir bisher eben ein unfertiges Volk, das jeder schreibende Deutsche fertig zu
machen strebte. Selbst der alte Ewald in Göttingen läßt keinem seiner auf
hebräische Culturgeschichte eingeschriebenen Zuhörer den Leidenskelch seiner
Vorlesungen vorübergehen, ohne einen Tropfen welfischen Giftes hineinzu¬
spritzen — womit wir diesen Hebräer indessen keineswegs unter die gelehrtesten
Deutschen oder die begnadetsten Dichter zählen wollen.

Wenn Ihr also durch Eure Studien und Neigungen zu einer ruhigen
Würdigung unsrer Verhältnisse gedrängt wurdet, so durfte man wohl fragen,
was die große Majorität der Schweizer gegen uns und unsre leitende Macht
schon vor 1870 so wunderlich erbost hatte. Wir hatten doch gerade keine
besonderen Proben feindseliger Gesinnung gegen die Schweiz abgegeben. In
allen diplomatischen Aetionen, welche der Schweiz seit zwanzig Jahren be-
schieden waren, hat sie unter den europäischen Großmächten von Preußen den
wärmsten Beistand erfahren: so im Jahr 18S3 bei der frivolen östreichischen
Grenzsperre und Ausweisung der Tessiner dadurch, daß Preußen dem k. k.
Versuche, das schweizerische Asylrecht zu beugen, widerstrebte; so im Dappen-
thal-Handel und der Savoyer Frage; und überall wäre die Unterstützung der
Schweizer Anschauungen unsrerseits noch erheblich kräftiger ausgefallen, wenn
wir damals schon den Staatsmann an der Spitze unsrer deutschen Vormacht
gesehen hätten, dessen Verwünschung heute der ganz überwiegenden Mehrheit
Eures Volkes für ein besonderes Kennzeichen politischer Reife gilt. Selbst
in dem einzigen Falle, wo schweizerische und preußische Interessen direct ge¬
genüberstanden, in der Neuenburger Frage, haben wir uns begnügt, die Be¬
gnadigung der Freunde Preußens im Canton Neuenburg als Gegenleistung
für unsern Verzicht auf den strengen Buchstaben des dynastischen Souveräne-
tätsrechts zu fordern. Ich bemerke beiläufig, daß auch in diesem Falle die
Schweiz die definitive Ordnung der staatsrechtlichen Verhältnisse des Cantons
Neuenburg unter der Ministerpräsidentschaft eines Bismarck ohne Zweifel
nicht schwerer erlangt haben würde, als unter dem damaligen preußischen Re¬
gime. Denn selbst ein so starres Rechtsgefühl wie dasjenige Robert von
Mohl's äußert am Schlüsse seiner Bemerkungen über die staatsrechtliche Ord¬
nung in Neuenburg, nachdem er das „zweifellose Recht der Könige von
Preußen auf die Regierung in Neuenburg" dargethan hat: „was echte Staats-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/19>, abgerufen am 28.09.2024.