Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

mal, und als die Alten erkannt. Unser Vaterland hat in allen unsern per¬
sönlichen Beziehungen sein redlich Theil verlangt und erhalten. Ihr aller¬
dings habt das, was wir in Folge des Jahres 1866 und 1870 im blutigen
Kampfe mit den kriegstüchtigsten Heeren Europa's mit den schwersten Opfern
errangen, die nationale Staatseinheit, schon seit bald 25 Jahren in unbe¬
strittenen Besitz. Ihr habt sie errungen nach einem unbedeutenden, durchaus
reinen Bürgerkrieg, da Euer Particularismus damals die Unklugheit beging,
sich mit der jesuitischen Liga zu verschwistern. Aber dieselben Jahre, die un¬
sere Einheitsbestrebungen vorläufig durch den Norddeutschen Bund und dessen
gesetzgeberische Arbeit befriedigten, haben Euch wiederholt tiefgreifende radicale
kantonale Verfassungsänderungen gebracht, religiöse Reformbewegungen von
solcher Kraft und Kühnheit, wie sie uns am Anfang unsrer staatlichen Ein¬
heit noch fern blieben, und namentlich immer erneute Bestrebungen und An¬
träge auf Abänderung der Schweizerischen Bundesverfassung, die zum Theil
erfolgreich waren. Also gewiß Grund genug für Jeden, der sich mit der Ge¬
schichte und Politik der Gegenwart aus Neigung oder berufsmäßig beschäftigt,
sich mit dem Schweizerischen Staatsleben fortdauernd in theilnehmender Be¬
ziehung zu halten; geschweige denn für einen herzlichen Freund Eures Gemein¬
wesens, der gern einen wesentlichen Theil seines geringen Wissens und Kön¬
nens der Schweiz als Lehrmeisterin dankbar zollt. Andererseits kann man
Dir und den Freunden die Anerkennung nicht versagen, daß Ihr bis zum
vorigen Jahr unsre nationale Entwicklung gerecht und sympathisch verfolgt
habt -- im Gegensatz zur großen Majorität Eurer Landsleute, Eurer Presse,
Eurer Finanzaristokratie und Eurer Radicalen, die sammt und sonders im
Jahr 1866 auf Seiten der Feinde Preußens standen -- natürlich überall aus
den edelsten Beweggründen -- und seither nicht aufgehört haben, unsre natio¬
nale Entwicklung zu verhöhnen und durch lügenhafte Berichte und schuldvolle
Ignoranz in deutschen Dingen uns herabzuwürdigen. Hier genügt die Erin¬
nerung an den biedern Victor Cherbuliez, dessen Pamphlete gegen Deutsch¬
land durch den gegenwärtigen Krieg dem verdienten Kinderspott so äußerst
energisch preisgegeben worden sind, der aber seiner Zeit in den vaterlands¬
losen Blättern Deutschlands wie der Schweiz als der größte politische Denker
unsrer Halbkugel verehrt wurde.

Diesen leichtfertigen Urtheilen der großen Mehrheit Eurer öffent¬
lichen Meinung gegenüber müssen wir Deutschen mit Dank anerkennen,
daß die gebildetsten Klassen und unabhängigsten Kreise der Schweizer
Gesellschaft mit freudiger Theilnahme die Fortschritte würdigten, welche
unser Euch stammverwandtes Volk seit 1866 gemacht hatte und durch
jeden neuen Act der norddeutschen Gesetzgebung vervollständigte. Daß Ihr,
Du und die Freunde, zu dieser tapferen Minorität gehörtet, war brav


mal, und als die Alten erkannt. Unser Vaterland hat in allen unsern per¬
sönlichen Beziehungen sein redlich Theil verlangt und erhalten. Ihr aller¬
dings habt das, was wir in Folge des Jahres 1866 und 1870 im blutigen
Kampfe mit den kriegstüchtigsten Heeren Europa's mit den schwersten Opfern
errangen, die nationale Staatseinheit, schon seit bald 25 Jahren in unbe¬
strittenen Besitz. Ihr habt sie errungen nach einem unbedeutenden, durchaus
reinen Bürgerkrieg, da Euer Particularismus damals die Unklugheit beging,
sich mit der jesuitischen Liga zu verschwistern. Aber dieselben Jahre, die un¬
sere Einheitsbestrebungen vorläufig durch den Norddeutschen Bund und dessen
gesetzgeberische Arbeit befriedigten, haben Euch wiederholt tiefgreifende radicale
kantonale Verfassungsänderungen gebracht, religiöse Reformbewegungen von
solcher Kraft und Kühnheit, wie sie uns am Anfang unsrer staatlichen Ein¬
heit noch fern blieben, und namentlich immer erneute Bestrebungen und An¬
träge auf Abänderung der Schweizerischen Bundesverfassung, die zum Theil
erfolgreich waren. Also gewiß Grund genug für Jeden, der sich mit der Ge¬
schichte und Politik der Gegenwart aus Neigung oder berufsmäßig beschäftigt,
sich mit dem Schweizerischen Staatsleben fortdauernd in theilnehmender Be¬
ziehung zu halten; geschweige denn für einen herzlichen Freund Eures Gemein¬
wesens, der gern einen wesentlichen Theil seines geringen Wissens und Kön¬
nens der Schweiz als Lehrmeisterin dankbar zollt. Andererseits kann man
Dir und den Freunden die Anerkennung nicht versagen, daß Ihr bis zum
vorigen Jahr unsre nationale Entwicklung gerecht und sympathisch verfolgt
habt — im Gegensatz zur großen Majorität Eurer Landsleute, Eurer Presse,
Eurer Finanzaristokratie und Eurer Radicalen, die sammt und sonders im
Jahr 1866 auf Seiten der Feinde Preußens standen — natürlich überall aus
den edelsten Beweggründen — und seither nicht aufgehört haben, unsre natio¬
nale Entwicklung zu verhöhnen und durch lügenhafte Berichte und schuldvolle
Ignoranz in deutschen Dingen uns herabzuwürdigen. Hier genügt die Erin¬
nerung an den biedern Victor Cherbuliez, dessen Pamphlete gegen Deutsch¬
land durch den gegenwärtigen Krieg dem verdienten Kinderspott so äußerst
energisch preisgegeben worden sind, der aber seiner Zeit in den vaterlands¬
losen Blättern Deutschlands wie der Schweiz als der größte politische Denker
unsrer Halbkugel verehrt wurde.

Diesen leichtfertigen Urtheilen der großen Mehrheit Eurer öffent¬
lichen Meinung gegenüber müssen wir Deutschen mit Dank anerkennen,
daß die gebildetsten Klassen und unabhängigsten Kreise der Schweizer
Gesellschaft mit freudiger Theilnahme die Fortschritte würdigten, welche
unser Euch stammverwandtes Volk seit 1866 gemacht hatte und durch
jeden neuen Act der norddeutschen Gesetzgebung vervollständigte. Daß Ihr,
Du und die Freunde, zu dieser tapferen Minorität gehörtet, war brav


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0018" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125800"/>
          <p xml:id="ID_42" prev="#ID_41"> mal, und als die Alten erkannt. Unser Vaterland hat in allen unsern per¬<lb/>
sönlichen Beziehungen sein redlich Theil verlangt und erhalten. Ihr aller¬<lb/>
dings habt das, was wir in Folge des Jahres 1866 und 1870 im blutigen<lb/>
Kampfe mit den kriegstüchtigsten Heeren Europa's mit den schwersten Opfern<lb/>
errangen, die nationale Staatseinheit, schon seit bald 25 Jahren in unbe¬<lb/>
strittenen Besitz. Ihr habt sie errungen nach einem unbedeutenden, durchaus<lb/>
reinen Bürgerkrieg, da Euer Particularismus damals die Unklugheit beging,<lb/>
sich mit der jesuitischen Liga zu verschwistern. Aber dieselben Jahre, die un¬<lb/>
sere Einheitsbestrebungen vorläufig durch den Norddeutschen Bund und dessen<lb/>
gesetzgeberische Arbeit befriedigten, haben Euch wiederholt tiefgreifende radicale<lb/>
kantonale Verfassungsänderungen gebracht, religiöse Reformbewegungen von<lb/>
solcher Kraft und Kühnheit, wie sie uns am Anfang unsrer staatlichen Ein¬<lb/>
heit noch fern blieben, und namentlich immer erneute Bestrebungen und An¬<lb/>
träge auf Abänderung der Schweizerischen Bundesverfassung, die zum Theil<lb/>
erfolgreich waren. Also gewiß Grund genug für Jeden, der sich mit der Ge¬<lb/>
schichte und Politik der Gegenwart aus Neigung oder berufsmäßig beschäftigt,<lb/>
sich mit dem Schweizerischen Staatsleben fortdauernd in theilnehmender Be¬<lb/>
ziehung zu halten; geschweige denn für einen herzlichen Freund Eures Gemein¬<lb/>
wesens, der gern einen wesentlichen Theil seines geringen Wissens und Kön¬<lb/>
nens der Schweiz als Lehrmeisterin dankbar zollt. Andererseits kann man<lb/>
Dir und den Freunden die Anerkennung nicht versagen, daß Ihr bis zum<lb/>
vorigen Jahr unsre nationale Entwicklung gerecht und sympathisch verfolgt<lb/>
habt &#x2014; im Gegensatz zur großen Majorität Eurer Landsleute, Eurer Presse,<lb/>
Eurer Finanzaristokratie und Eurer Radicalen, die sammt und sonders im<lb/>
Jahr 1866 auf Seiten der Feinde Preußens standen &#x2014; natürlich überall aus<lb/>
den edelsten Beweggründen &#x2014; und seither nicht aufgehört haben, unsre natio¬<lb/>
nale Entwicklung zu verhöhnen und durch lügenhafte Berichte und schuldvolle<lb/>
Ignoranz in deutschen Dingen uns herabzuwürdigen. Hier genügt die Erin¬<lb/>
nerung an den biedern Victor Cherbuliez, dessen Pamphlete gegen Deutsch¬<lb/>
land durch den gegenwärtigen Krieg dem verdienten Kinderspott so äußerst<lb/>
energisch preisgegeben worden sind, der aber seiner Zeit in den vaterlands¬<lb/>
losen Blättern Deutschlands wie der Schweiz als der größte politische Denker<lb/>
unsrer Halbkugel verehrt wurde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_43" next="#ID_44"> Diesen leichtfertigen Urtheilen der großen Mehrheit Eurer öffent¬<lb/>
lichen Meinung gegenüber müssen wir Deutschen mit Dank anerkennen,<lb/>
daß die gebildetsten Klassen und unabhängigsten Kreise der Schweizer<lb/>
Gesellschaft mit freudiger Theilnahme die Fortschritte würdigten, welche<lb/>
unser Euch stammverwandtes Volk seit 1866 gemacht hatte und durch<lb/>
jeden neuen Act der norddeutschen Gesetzgebung vervollständigte. Daß Ihr,<lb/>
Du und die Freunde, zu dieser tapferen Minorität gehörtet, war brav</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0018] mal, und als die Alten erkannt. Unser Vaterland hat in allen unsern per¬ sönlichen Beziehungen sein redlich Theil verlangt und erhalten. Ihr aller¬ dings habt das, was wir in Folge des Jahres 1866 und 1870 im blutigen Kampfe mit den kriegstüchtigsten Heeren Europa's mit den schwersten Opfern errangen, die nationale Staatseinheit, schon seit bald 25 Jahren in unbe¬ strittenen Besitz. Ihr habt sie errungen nach einem unbedeutenden, durchaus reinen Bürgerkrieg, da Euer Particularismus damals die Unklugheit beging, sich mit der jesuitischen Liga zu verschwistern. Aber dieselben Jahre, die un¬ sere Einheitsbestrebungen vorläufig durch den Norddeutschen Bund und dessen gesetzgeberische Arbeit befriedigten, haben Euch wiederholt tiefgreifende radicale kantonale Verfassungsänderungen gebracht, religiöse Reformbewegungen von solcher Kraft und Kühnheit, wie sie uns am Anfang unsrer staatlichen Ein¬ heit noch fern blieben, und namentlich immer erneute Bestrebungen und An¬ träge auf Abänderung der Schweizerischen Bundesverfassung, die zum Theil erfolgreich waren. Also gewiß Grund genug für Jeden, der sich mit der Ge¬ schichte und Politik der Gegenwart aus Neigung oder berufsmäßig beschäftigt, sich mit dem Schweizerischen Staatsleben fortdauernd in theilnehmender Be¬ ziehung zu halten; geschweige denn für einen herzlichen Freund Eures Gemein¬ wesens, der gern einen wesentlichen Theil seines geringen Wissens und Kön¬ nens der Schweiz als Lehrmeisterin dankbar zollt. Andererseits kann man Dir und den Freunden die Anerkennung nicht versagen, daß Ihr bis zum vorigen Jahr unsre nationale Entwicklung gerecht und sympathisch verfolgt habt — im Gegensatz zur großen Majorität Eurer Landsleute, Eurer Presse, Eurer Finanzaristokratie und Eurer Radicalen, die sammt und sonders im Jahr 1866 auf Seiten der Feinde Preußens standen — natürlich überall aus den edelsten Beweggründen — und seither nicht aufgehört haben, unsre natio¬ nale Entwicklung zu verhöhnen und durch lügenhafte Berichte und schuldvolle Ignoranz in deutschen Dingen uns herabzuwürdigen. Hier genügt die Erin¬ nerung an den biedern Victor Cherbuliez, dessen Pamphlete gegen Deutsch¬ land durch den gegenwärtigen Krieg dem verdienten Kinderspott so äußerst energisch preisgegeben worden sind, der aber seiner Zeit in den vaterlands¬ losen Blättern Deutschlands wie der Schweiz als der größte politische Denker unsrer Halbkugel verehrt wurde. Diesen leichtfertigen Urtheilen der großen Mehrheit Eurer öffent¬ lichen Meinung gegenüber müssen wir Deutschen mit Dank anerkennen, daß die gebildetsten Klassen und unabhängigsten Kreise der Schweizer Gesellschaft mit freudiger Theilnahme die Fortschritte würdigten, welche unser Euch stammverwandtes Volk seit 1866 gemacht hatte und durch jeden neuen Act der norddeutschen Gesetzgebung vervollständigte. Daß Ihr, Du und die Freunde, zu dieser tapferen Minorität gehörtet, war brav

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/18
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/18>, abgerufen am 21.10.2024.