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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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daß die Besorgniß vor künftiger Verarmung den Gemeindevorstand niemals
zur Zurückweisung des Anziehenden berechtige, wie dies K. 4 des Nordd. Frei¬
zügigkeitsgesetzes thut. Noch weniger berührt die neueste Bundes-Reform ein¬
gehend die Frage, ob auch schon bei vorübergehender Verarmung (Arbeits¬
unfähigkeit) die Ausweisung des neu Angezogenen gestattet sei. Die Frage
wird sogar nach Fassung des schweizerischen Entwurfs mit Bestimmtheit zu
bejahen sein, während nach §. 5 des Deutschen Freizügigkeitsgesetzes die Aus¬
weisung erst dann zulässig ist, wenn die Gemeinde nachweist, daß aus andern
Gründen als blos vorübergehender Verarmung die Unterstützung nothwendig
sei. Aber selbst in den Fällen berechtigter Ausweisung darf diese nach §. 6
unsres Gesetzes nie vollstreckt werden, bevor nicht die Annahmeerklärung
der in Anspruch genommenen Gemeinde oder eine wenigstens vorläufig voll¬
streckbare Entscheidung über die Fürsorgepflicht erfolgt ist. Bis zur Ueber¬
nahme des Auszuweisenden aber ist der Aufenthaltsstaat (Kanton) zur Für¬
sorge nach den landesüblichen Grundsätzen über öffentliche Armenpflege ver¬
pflichtet (§. 7). Von alledem sagt die schweizerische Freizügigkeitsreform nichts.
Sie schweigt sich auch vollkommen aus über die Verpflichtung des Anziehenden
zur Bezahlung der Ortsabgaben. Unser §. 8 dagegen bestimmt, daß die Ge¬
meinde nicht befugt ist, irgend welche Anzugsabgabe zu erheben, ja daß der
Neuanziehende erst nach einem mehr als dreimonatlichen Aufenthalte zu den
Lasten der übrigen Gemeindeangehörigen herangezogen werden kann. Endlich
entbehrt die Schweiz der stritten Vorschrift unsres §. 12, daß die polizeiliche
Ausweisung Bundesangehöriger in anderen, als den durch dieses Gesetz be¬
stimmten Fällen unzulässig sei.

Aber wenn wir auch schon im Jahre 1867 die schweizerische Zugsreiheit von
heute weit überholt hatten, so haben wir doch keineswegs geglaubt, damit etwas
Großes erreicht zu haben. Wir waren vielmehr von der Ueberzeugung durch¬
drungen, daß die Freiheit der persönlichen Bewegung eine leere Phrase sei,
ohne die Freiheit der Erwerbsthätigkeit und des geschäftlichen Verkehrs. Wir
haben demgemäß rasch Hand ans Werk gelegt. Wir haben in den kurzen
Jahren von 1867 bis zum Frühjahr 1870 die Freiheit der persönlichen
Bewegung ergänzt durch das Bundesgesetz, welches die Eheschließung von
allen bisher den Gemeinden oder den Ortsobrigkeiten zustehenden Widerspruchs¬
rechten befreit. Wir haben in dem Bundesgesetze über die Erwerbung und
den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit den Wechsel des
Staatsbürgerrechts innerhalb des Bundes an den bloßen Willen des Einzel¬
nengeknüpft, und in dem Bundesgesetze über den Unterstützungswohnsitz
(d. h. über die Verpflichtung zur Armenversorgung) jedem Verarmten, unab¬
hängig von seinem Bürger- und Heimathsrecht, an dem Ort den gesetzlichen
Anspruch auf Unterstützung gesichert, wo er sich freiwillig zwei Jahre lang


daß die Besorgniß vor künftiger Verarmung den Gemeindevorstand niemals
zur Zurückweisung des Anziehenden berechtige, wie dies K. 4 des Nordd. Frei¬
zügigkeitsgesetzes thut. Noch weniger berührt die neueste Bundes-Reform ein¬
gehend die Frage, ob auch schon bei vorübergehender Verarmung (Arbeits¬
unfähigkeit) die Ausweisung des neu Angezogenen gestattet sei. Die Frage
wird sogar nach Fassung des schweizerischen Entwurfs mit Bestimmtheit zu
bejahen sein, während nach §. 5 des Deutschen Freizügigkeitsgesetzes die Aus¬
weisung erst dann zulässig ist, wenn die Gemeinde nachweist, daß aus andern
Gründen als blos vorübergehender Verarmung die Unterstützung nothwendig
sei. Aber selbst in den Fällen berechtigter Ausweisung darf diese nach §. 6
unsres Gesetzes nie vollstreckt werden, bevor nicht die Annahmeerklärung
der in Anspruch genommenen Gemeinde oder eine wenigstens vorläufig voll¬
streckbare Entscheidung über die Fürsorgepflicht erfolgt ist. Bis zur Ueber¬
nahme des Auszuweisenden aber ist der Aufenthaltsstaat (Kanton) zur Für¬
sorge nach den landesüblichen Grundsätzen über öffentliche Armenpflege ver¬
pflichtet (§. 7). Von alledem sagt die schweizerische Freizügigkeitsreform nichts.
Sie schweigt sich auch vollkommen aus über die Verpflichtung des Anziehenden
zur Bezahlung der Ortsabgaben. Unser §. 8 dagegen bestimmt, daß die Ge¬
meinde nicht befugt ist, irgend welche Anzugsabgabe zu erheben, ja daß der
Neuanziehende erst nach einem mehr als dreimonatlichen Aufenthalte zu den
Lasten der übrigen Gemeindeangehörigen herangezogen werden kann. Endlich
entbehrt die Schweiz der stritten Vorschrift unsres §. 12, daß die polizeiliche
Ausweisung Bundesangehöriger in anderen, als den durch dieses Gesetz be¬
stimmten Fällen unzulässig sei.

Aber wenn wir auch schon im Jahre 1867 die schweizerische Zugsreiheit von
heute weit überholt hatten, so haben wir doch keineswegs geglaubt, damit etwas
Großes erreicht zu haben. Wir waren vielmehr von der Ueberzeugung durch¬
drungen, daß die Freiheit der persönlichen Bewegung eine leere Phrase sei,
ohne die Freiheit der Erwerbsthätigkeit und des geschäftlichen Verkehrs. Wir
haben demgemäß rasch Hand ans Werk gelegt. Wir haben in den kurzen
Jahren von 1867 bis zum Frühjahr 1870 die Freiheit der persönlichen
Bewegung ergänzt durch das Bundesgesetz, welches die Eheschließung von
allen bisher den Gemeinden oder den Ortsobrigkeiten zustehenden Widerspruchs¬
rechten befreit. Wir haben in dem Bundesgesetze über die Erwerbung und
den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit den Wechsel des
Staatsbürgerrechts innerhalb des Bundes an den bloßen Willen des Einzel¬
nengeknüpft, und in dem Bundesgesetze über den Unterstützungswohnsitz
(d. h. über die Verpflichtung zur Armenversorgung) jedem Verarmten, unab¬
hängig von seinem Bürger- und Heimathsrecht, an dem Ort den gesetzlichen
Anspruch auf Unterstützung gesichert, wo er sich freiwillig zwei Jahre lang


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/171>, abgerufen am 29.09.2024.