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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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seit 1862 nichts, man drückte vielmehr den Uebergriffen der Kirche gegenüber
die Augen zu. Bei Gelegenheit der bekannten Denunciationssache gegen den
letztverstorbenen Bischof kam sogar an den Tag, daß das Concordat.
welches man allgemein als durch das Kirchengesetz beseitigt angesehen hatte,
mit stillschweigender Duldung des Ministers v. Golther thatsächlich nie ganz
außer Wirksamkeit gesetzt worden war, indem die Instruction, welche der
Papst nach Abschluß' der Convention, um die Grundsätze der letzteren im Sinn
der Curien in der Diöcese durchzuführen, in einem Breve vom 30, Juni 1837
erlassen hatte, und welche in fast allen Punkten in directem Widerspruch mit
dem Kirchengesetz stand, nach wie vor in Geltung belassen wurde. Auf solche
Weise erhielt man bisher den Frieden zwischen Staat und Kirche und bezeich¬
nete diesen mit einem Seitenblicke auf Baden als die schönste Blüthe der
großdeutschen Politik.

Unter diesen Umständen ist leicht erklärlich, welcher Schrecken über die
Regierung kam, als der Papst im v. I. den Landesbischof mit der Ent¬
ziehung der f. g. Quinquennalsacultäten bedrohte, wenn er fernerhin mit der
Publication der Coneilsdeerete zögern würde. Diese Drohung bedeutete nichts
weniger, als die Entziehung aller Dispensationsbefugnisse, welche der Bischof
bisher in dauerndem Auftrag des Papstes für diesen ausgeübt hatte: die
bischöfliche Ehegerichtsbarkeit würde damit in ihrem bisherigen Bestand gänz¬
lich untergraben, die Bestimmung des Kirchengesetzes, welches Ehesachen nach
Rom zu ziehen verbot, illusorisch, die Erlassung einer weltlichen Ehegesetzge¬
bung unvermeidlich geworden sein. Auch darüber war kein Zweifel, daß trotz
aller bisherigen Anhänglichkeit seines Clerus, der Bischof bei einem Conflict
mit der Curie fernerhin nicht mehr auf den Gehorsam desselben rechnen konnte.
Hefele soll denn auch, wie verlautet, der Regierung von seiner verzweifelten
Lage gegenüber dem römischen Ansinnen, und daß er nicht aus V, seines
Clerus rechnen könne, Mittheilung gemacht und sondirt haben, in wie weit
er bei einer Renitenz gegen Rom einen Rückhalt an der diesseitigen Staatsge¬
walt finden könne. Die'Antwort war, daß man ihm, wie erwähnt, insinuirte,
er möchte der Regierung keine Verlegenheiten bereiten. Wer dürfte unter
solchen Umständen einen Stein auf den Bischof werfen, den die eigene Staats¬
gewalt im Stiche läßt in einer Frage, wo gerade die Rechte der letztern am
meisten auf dem Spiele stehen? Wer kann sich überhaupt noch wundern, wenn
der hohe und niedere Clerus mehr nach Rom, als nach Deutschland schaut;
wenn er sich lieber allem fügt, was von dorther kommt, als daß er seine
Hoffnung auf die schwankende, muthlose Haltung deutscher Regierungen stützt?

Bewahrheiten sich übrigens die neuesten Nachrichten über das Vorgehen
des Bayernkönigs, so droht der württembergischen Politik auch in der Kirchen'frage
eine moralische Niederlage gegenüber den beiden Nachbarstaaten, welche sie
". einzig ihrer Unschlüssigkei't und Energielosigkeit zu verdanken hat.






Verantwortlicher Redacteur: Di-. Haus Vlnm.
Verlan, von F. L. Hering. -- Druck von Hiithcl Sr Legler in Leipzig.

seit 1862 nichts, man drückte vielmehr den Uebergriffen der Kirche gegenüber
die Augen zu. Bei Gelegenheit der bekannten Denunciationssache gegen den
letztverstorbenen Bischof kam sogar an den Tag, daß das Concordat.
welches man allgemein als durch das Kirchengesetz beseitigt angesehen hatte,
mit stillschweigender Duldung des Ministers v. Golther thatsächlich nie ganz
außer Wirksamkeit gesetzt worden war, indem die Instruction, welche der
Papst nach Abschluß' der Convention, um die Grundsätze der letzteren im Sinn
der Curien in der Diöcese durchzuführen, in einem Breve vom 30, Juni 1837
erlassen hatte, und welche in fast allen Punkten in directem Widerspruch mit
dem Kirchengesetz stand, nach wie vor in Geltung belassen wurde. Auf solche
Weise erhielt man bisher den Frieden zwischen Staat und Kirche und bezeich¬
nete diesen mit einem Seitenblicke auf Baden als die schönste Blüthe der
großdeutschen Politik.

Unter diesen Umständen ist leicht erklärlich, welcher Schrecken über die
Regierung kam, als der Papst im v. I. den Landesbischof mit der Ent¬
ziehung der f. g. Quinquennalsacultäten bedrohte, wenn er fernerhin mit der
Publication der Coneilsdeerete zögern würde. Diese Drohung bedeutete nichts
weniger, als die Entziehung aller Dispensationsbefugnisse, welche der Bischof
bisher in dauerndem Auftrag des Papstes für diesen ausgeübt hatte: die
bischöfliche Ehegerichtsbarkeit würde damit in ihrem bisherigen Bestand gänz¬
lich untergraben, die Bestimmung des Kirchengesetzes, welches Ehesachen nach
Rom zu ziehen verbot, illusorisch, die Erlassung einer weltlichen Ehegesetzge¬
bung unvermeidlich geworden sein. Auch darüber war kein Zweifel, daß trotz
aller bisherigen Anhänglichkeit seines Clerus, der Bischof bei einem Conflict
mit der Curie fernerhin nicht mehr auf den Gehorsam desselben rechnen konnte.
Hefele soll denn auch, wie verlautet, der Regierung von seiner verzweifelten
Lage gegenüber dem römischen Ansinnen, und daß er nicht aus V, seines
Clerus rechnen könne, Mittheilung gemacht und sondirt haben, in wie weit
er bei einer Renitenz gegen Rom einen Rückhalt an der diesseitigen Staatsge¬
walt finden könne. Die'Antwort war, daß man ihm, wie erwähnt, insinuirte,
er möchte der Regierung keine Verlegenheiten bereiten. Wer dürfte unter
solchen Umständen einen Stein auf den Bischof werfen, den die eigene Staats¬
gewalt im Stiche läßt in einer Frage, wo gerade die Rechte der letztern am
meisten auf dem Spiele stehen? Wer kann sich überhaupt noch wundern, wenn
der hohe und niedere Clerus mehr nach Rom, als nach Deutschland schaut;
wenn er sich lieber allem fügt, was von dorther kommt, als daß er seine
Hoffnung auf die schwankende, muthlose Haltung deutscher Regierungen stützt?

Bewahrheiten sich übrigens die neuesten Nachrichten über das Vorgehen
des Bayernkönigs, so droht der württembergischen Politik auch in der Kirchen'frage
eine moralische Niederlage gegenüber den beiden Nachbarstaaten, welche sie
«. einzig ihrer Unschlüssigkei't und Energielosigkeit zu verdanken hat.






Verantwortlicher Redacteur: Di-. Haus Vlnm.
Verlan, von F. L. Hering. — Druck von Hiithcl Sr Legler in Leipzig.
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[0128] seit 1862 nichts, man drückte vielmehr den Uebergriffen der Kirche gegenüber die Augen zu. Bei Gelegenheit der bekannten Denunciationssache gegen den letztverstorbenen Bischof kam sogar an den Tag, daß das Concordat. welches man allgemein als durch das Kirchengesetz beseitigt angesehen hatte, mit stillschweigender Duldung des Ministers v. Golther thatsächlich nie ganz außer Wirksamkeit gesetzt worden war, indem die Instruction, welche der Papst nach Abschluß' der Convention, um die Grundsätze der letzteren im Sinn der Curien in der Diöcese durchzuführen, in einem Breve vom 30, Juni 1837 erlassen hatte, und welche in fast allen Punkten in directem Widerspruch mit dem Kirchengesetz stand, nach wie vor in Geltung belassen wurde. Auf solche Weise erhielt man bisher den Frieden zwischen Staat und Kirche und bezeich¬ nete diesen mit einem Seitenblicke auf Baden als die schönste Blüthe der großdeutschen Politik. Unter diesen Umständen ist leicht erklärlich, welcher Schrecken über die Regierung kam, als der Papst im v. I. den Landesbischof mit der Ent¬ ziehung der f. g. Quinquennalsacultäten bedrohte, wenn er fernerhin mit der Publication der Coneilsdeerete zögern würde. Diese Drohung bedeutete nichts weniger, als die Entziehung aller Dispensationsbefugnisse, welche der Bischof bisher in dauerndem Auftrag des Papstes für diesen ausgeübt hatte: die bischöfliche Ehegerichtsbarkeit würde damit in ihrem bisherigen Bestand gänz¬ lich untergraben, die Bestimmung des Kirchengesetzes, welches Ehesachen nach Rom zu ziehen verbot, illusorisch, die Erlassung einer weltlichen Ehegesetzge¬ bung unvermeidlich geworden sein. Auch darüber war kein Zweifel, daß trotz aller bisherigen Anhänglichkeit seines Clerus, der Bischof bei einem Conflict mit der Curie fernerhin nicht mehr auf den Gehorsam desselben rechnen konnte. Hefele soll denn auch, wie verlautet, der Regierung von seiner verzweifelten Lage gegenüber dem römischen Ansinnen, und daß er nicht aus V, seines Clerus rechnen könne, Mittheilung gemacht und sondirt haben, in wie weit er bei einer Renitenz gegen Rom einen Rückhalt an der diesseitigen Staatsge¬ walt finden könne. Die'Antwort war, daß man ihm, wie erwähnt, insinuirte, er möchte der Regierung keine Verlegenheiten bereiten. Wer dürfte unter solchen Umständen einen Stein auf den Bischof werfen, den die eigene Staats¬ gewalt im Stiche läßt in einer Frage, wo gerade die Rechte der letztern am meisten auf dem Spiele stehen? Wer kann sich überhaupt noch wundern, wenn der hohe und niedere Clerus mehr nach Rom, als nach Deutschland schaut; wenn er sich lieber allem fügt, was von dorther kommt, als daß er seine Hoffnung auf die schwankende, muthlose Haltung deutscher Regierungen stützt? Bewahrheiten sich übrigens die neuesten Nachrichten über das Vorgehen des Bayernkönigs, so droht der württembergischen Politik auch in der Kirchen'frage eine moralische Niederlage gegenüber den beiden Nachbarstaaten, welche sie «. einzig ihrer Unschlüssigkei't und Energielosigkeit zu verdanken hat. Verantwortlicher Redacteur: Di-. Haus Vlnm. Verlan, von F. L. Hering. — Druck von Hiithcl Sr Legler in Leipzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/128>, abgerufen am 27.12.2024.