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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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Kaiserthum, nicht mehr unterschied: im Gedächtniß der Menschen haftet vor¬
nehmlich die äußerlich blendendere Stellung, die höhere Würde. Die Kaiser
sah man jetzt an als die Vertreter der deutschen Einheit; und sobald nur
diese Sehnsucht nach größerer Einheit im deutschen Volke festere Formen an¬
nahm, erhob sich der Ruf nach Rückkehr von Kaiser und Reich. Es wird
nicht kleinlich gescholten werden, wenn ich dies noch besonders hervorhebe:
was das Volk verlangte und herbeiwünschte, war die verschwundene Einheit
des Reichs und die geknickte Macht des Königthums. Daß das Kaisertum
in der Wirklichkeit einstens gerade die verderbliche auswärtige Eroberungs¬
politik und die kirchliche Ideenwelt des früheren Mittelalters, die Vermischung
staatlicher und geistlicher Dinge bedeutet, das wurde nicht beachtet: nein, als
die eigentlichen Vertreter des Reichsgedankens lebten die Kaiser fort in dem
Sinne des Volkes und in den heißen Wünschen der Patrioten.

Und in allen Perioden tiefer nationaler Erregung in Deutschland brach
dieser Gedanke sich Bahn. Beim Ausgang des Is., im Beginn des 16. Jahr¬
hunderts erfüllte er das Volk in den weitesten Schichten, in einer an Mannig¬
faltigkeit reichen Literatur fand er kräftigen und vielstimmigen Ausdruck.
Mit Jubel wurde es begrüßt, als man vernahm, der neue Kaiser Karl V.
wolle eine Erneuerung des Reichs unternehmen. Aber hart war die Ent¬
täuschung gerade derjenigen, die mit den innersten Bewegungen des Volksherzens
vertraut waren, als sie gewahr wurden, daß dieser dem deutschen Volksgenius
ganz fremde Karl seinen Sinn wirklich auf die Erneuerung des Kaiser¬
thu ins gerichtet: nicht an die Ideen des Königthums knüpfte er wieder an,
nein das Kaiserthum mit seinen Gelüsten auswärtiger Eroberung, mit allen
seinen kirchlichen Tendenzen verlangte er ins Leben zurückzurufen. Von diesem
Gedanken wendete die deutsche Nation erschreckt und unwillig sich ab: sie
gerieth aufs Neue in Kampf mit der mittelalterlichen Kaiseridee, ja, die Nation
selbst hat in ihrem Verhalten damals gezeigt, daß ihre in die Vergangen¬
heit gewendeten Blicke nicht sowohl das Kaiserthum als das Königthum ge¬
sucht hatten, wie immer der Ruf gelautet haben mochte.

Und das große Resultat der Regierung Karls V. für Deutschland ist
gerade dies: mit dem Mittelalter, mit dem spezifischen Charakter des Mittel¬
alters hat die Nation damals für immer gebrochen: Kirche und Kaiserthum
des Mittelalters sollten nicht noch einmal ihr Antlitz in dem Deutschland der
Neuzeit erheben!

Das deutsche Reich war im 16. Jahrhundert nicht hergestellt. Die Auf¬
lösung machte gerade in der nächsten Zeit noch weitere Fortschritte. Was
an Resten des Reichs noch übrig geblieben, hatte keinen Inhalt oder keinen
Werth. Geradezu als ein Glück für Deutschland wird man bezeichnen
dürfen, daß diese stehen gebliebenen Trümmer und Ruinen des alten Zustandes


Kaiserthum, nicht mehr unterschied: im Gedächtniß der Menschen haftet vor¬
nehmlich die äußerlich blendendere Stellung, die höhere Würde. Die Kaiser
sah man jetzt an als die Vertreter der deutschen Einheit; und sobald nur
diese Sehnsucht nach größerer Einheit im deutschen Volke festere Formen an¬
nahm, erhob sich der Ruf nach Rückkehr von Kaiser und Reich. Es wird
nicht kleinlich gescholten werden, wenn ich dies noch besonders hervorhebe:
was das Volk verlangte und herbeiwünschte, war die verschwundene Einheit
des Reichs und die geknickte Macht des Königthums. Daß das Kaisertum
in der Wirklichkeit einstens gerade die verderbliche auswärtige Eroberungs¬
politik und die kirchliche Ideenwelt des früheren Mittelalters, die Vermischung
staatlicher und geistlicher Dinge bedeutet, das wurde nicht beachtet: nein, als
die eigentlichen Vertreter des Reichsgedankens lebten die Kaiser fort in dem
Sinne des Volkes und in den heißen Wünschen der Patrioten.

Und in allen Perioden tiefer nationaler Erregung in Deutschland brach
dieser Gedanke sich Bahn. Beim Ausgang des Is., im Beginn des 16. Jahr¬
hunderts erfüllte er das Volk in den weitesten Schichten, in einer an Mannig¬
faltigkeit reichen Literatur fand er kräftigen und vielstimmigen Ausdruck.
Mit Jubel wurde es begrüßt, als man vernahm, der neue Kaiser Karl V.
wolle eine Erneuerung des Reichs unternehmen. Aber hart war die Ent¬
täuschung gerade derjenigen, die mit den innersten Bewegungen des Volksherzens
vertraut waren, als sie gewahr wurden, daß dieser dem deutschen Volksgenius
ganz fremde Karl seinen Sinn wirklich auf die Erneuerung des Kaiser¬
thu ins gerichtet: nicht an die Ideen des Königthums knüpfte er wieder an,
nein das Kaiserthum mit seinen Gelüsten auswärtiger Eroberung, mit allen
seinen kirchlichen Tendenzen verlangte er ins Leben zurückzurufen. Von diesem
Gedanken wendete die deutsche Nation erschreckt und unwillig sich ab: sie
gerieth aufs Neue in Kampf mit der mittelalterlichen Kaiseridee, ja, die Nation
selbst hat in ihrem Verhalten damals gezeigt, daß ihre in die Vergangen¬
heit gewendeten Blicke nicht sowohl das Kaiserthum als das Königthum ge¬
sucht hatten, wie immer der Ruf gelautet haben mochte.

Und das große Resultat der Regierung Karls V. für Deutschland ist
gerade dies: mit dem Mittelalter, mit dem spezifischen Charakter des Mittel¬
alters hat die Nation damals für immer gebrochen: Kirche und Kaiserthum
des Mittelalters sollten nicht noch einmal ihr Antlitz in dem Deutschland der
Neuzeit erheben!

Das deutsche Reich war im 16. Jahrhundert nicht hergestellt. Die Auf¬
lösung machte gerade in der nächsten Zeit noch weitere Fortschritte. Was
an Resten des Reichs noch übrig geblieben, hatte keinen Inhalt oder keinen
Werth. Geradezu als ein Glück für Deutschland wird man bezeichnen
dürfen, daß diese stehen gebliebenen Trümmer und Ruinen des alten Zustandes


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[0103] Kaiserthum, nicht mehr unterschied: im Gedächtniß der Menschen haftet vor¬ nehmlich die äußerlich blendendere Stellung, die höhere Würde. Die Kaiser sah man jetzt an als die Vertreter der deutschen Einheit; und sobald nur diese Sehnsucht nach größerer Einheit im deutschen Volke festere Formen an¬ nahm, erhob sich der Ruf nach Rückkehr von Kaiser und Reich. Es wird nicht kleinlich gescholten werden, wenn ich dies noch besonders hervorhebe: was das Volk verlangte und herbeiwünschte, war die verschwundene Einheit des Reichs und die geknickte Macht des Königthums. Daß das Kaisertum in der Wirklichkeit einstens gerade die verderbliche auswärtige Eroberungs¬ politik und die kirchliche Ideenwelt des früheren Mittelalters, die Vermischung staatlicher und geistlicher Dinge bedeutet, das wurde nicht beachtet: nein, als die eigentlichen Vertreter des Reichsgedankens lebten die Kaiser fort in dem Sinne des Volkes und in den heißen Wünschen der Patrioten. Und in allen Perioden tiefer nationaler Erregung in Deutschland brach dieser Gedanke sich Bahn. Beim Ausgang des Is., im Beginn des 16. Jahr¬ hunderts erfüllte er das Volk in den weitesten Schichten, in einer an Mannig¬ faltigkeit reichen Literatur fand er kräftigen und vielstimmigen Ausdruck. Mit Jubel wurde es begrüßt, als man vernahm, der neue Kaiser Karl V. wolle eine Erneuerung des Reichs unternehmen. Aber hart war die Ent¬ täuschung gerade derjenigen, die mit den innersten Bewegungen des Volksherzens vertraut waren, als sie gewahr wurden, daß dieser dem deutschen Volksgenius ganz fremde Karl seinen Sinn wirklich auf die Erneuerung des Kaiser¬ thu ins gerichtet: nicht an die Ideen des Königthums knüpfte er wieder an, nein das Kaiserthum mit seinen Gelüsten auswärtiger Eroberung, mit allen seinen kirchlichen Tendenzen verlangte er ins Leben zurückzurufen. Von diesem Gedanken wendete die deutsche Nation erschreckt und unwillig sich ab: sie gerieth aufs Neue in Kampf mit der mittelalterlichen Kaiseridee, ja, die Nation selbst hat in ihrem Verhalten damals gezeigt, daß ihre in die Vergangen¬ heit gewendeten Blicke nicht sowohl das Kaiserthum als das Königthum ge¬ sucht hatten, wie immer der Ruf gelautet haben mochte. Und das große Resultat der Regierung Karls V. für Deutschland ist gerade dies: mit dem Mittelalter, mit dem spezifischen Charakter des Mittel¬ alters hat die Nation damals für immer gebrochen: Kirche und Kaiserthum des Mittelalters sollten nicht noch einmal ihr Antlitz in dem Deutschland der Neuzeit erheben! Das deutsche Reich war im 16. Jahrhundert nicht hergestellt. Die Auf¬ lösung machte gerade in der nächsten Zeit noch weitere Fortschritte. Was an Resten des Reichs noch übrig geblieben, hatte keinen Inhalt oder keinen Werth. Geradezu als ein Glück für Deutschland wird man bezeichnen dürfen, daß diese stehen gebliebenen Trümmer und Ruinen des alten Zustandes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/103>, abgerufen am 29.09.2024.