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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Heine's Anordnungen, gewissenhafter Rapport an ihn über Alles, was sich
zutrug, war als oberstes Gesetz angenommen, und wurde streng durchgeführt.
Heine schnitt alle überflüssigen Worte ab, that jede Arbeit selbst, die ein An¬
derer nicht schnell begriff oder der sich irgend ein College zu entziehen an¬
schickte. Um 6^/2 Uhr versammelten sich die Aerzte beim Frühstück in der oben¬
erwähnten Halle, die mit der Zeit einen wohnlichen Charakter annahm. Nach¬
dem ein Arzt infolge der primitiven Einrichtung dieses Speisesaals an der
Lungenentzündung lebensgefährlich erkrankt, ein Anderer eine Halsentzündung
davongetragen hatte, kamen Bretter und Decken unter den Eßtisch, der
endlich aus langen Dielen bestand, die auf Holzböcken ruhend mit Lein"
wand und Wachstuch bekleidet wurden. Ein Segeltuch hielt vom Ein¬
gang her den Zug ab, und ein Kochheerd die Speisen warm. Um 7 Uhr
eilten die Aerzte aus ihre Abtheilungen, wo sie, da wir nur sehr schwer
Verwundete hatten, die Verbände selbst anlegten. Um 11 Uhr erhielten
die Pfleglinge das sogenannte Dejeuner, daß sich vom deutschen Mittags¬
essen in nichts unterschied, als daß die Suppe schlechter war, als man sie
in Spitalküchen findet. Die Fleischbrühe, künstlich gefärbt, wechselte in
ihren Zuthaten ab mit Brod und Nudeln. Letztere aus Wasser und Mehl
bestehend, schmeckten wie Mehlpappe, und es dauerte mehrere Tage, bis
unserer deutschen Pflegerin gelang, kräftigenden Nahrung einzuführen. Um
1 Uhr setzten sich die Aerzte und das Hilfspersonal zu Tisch. Unsere Pflege¬
rin, welche mit der Expedition aus Deutschland gekommen war, behandelte
das gesammte Personal als ein im Dienst der Menschheit stehendes Material
und jeden Einzelnen nach der Bedeutung, die er als Werkzeug für's große
Ganze einnahm. Dafür mußte sie sich die Zurechtweisung von Seiten un¬
seres wachsamen. Oberhauptes gefallen lassen. Heine bestand auf strenger
Gleichberechtigung. Damit unsern Aerzten, die einen mühevollen Dienst
hatten, nichts entzogen wurde, machte unsere Pflegerin erfolgreiche Anstreng¬
ungen, unseren Zustand im Allgemeinen zu verbessern, und wir lebten wie eine
Familie, Leid und Freud^ brüderlich mit einander theilend. -- Nach Tisch folgten
wir Heine in das Operationszimmer, dahin, wo der Chirurg allein im Dienst
der Wissenschaft steht. Hier entfaltet sich seine Bedeutung als Mensch in
edelster Weise, da er hier im reinsten Sinne des Wortes Mensch sein muß,
wenn er nicht fühllos werden soll. Dort, wo ein scharfer Blick, rasches Ur¬
theilsvermögen, kühne Thatkraft und eine sichere feine Hand nothwendige
Bedingungen des Gelingens sind, wo es um Leben und Tod sich handelt,
habe ich oft mir eine Bildnerhand herbeigewünscht, um die entscheidenden
Momente der ärztlichen Kunst zu erfassen und sie der Mit- und Nach¬
welt zu überliefern. Sind die ersten Schauer des Grauens und des
herzbrechenden Mitleidens überwunden, so hebt man sich empor, gestützt auf


Heine's Anordnungen, gewissenhafter Rapport an ihn über Alles, was sich
zutrug, war als oberstes Gesetz angenommen, und wurde streng durchgeführt.
Heine schnitt alle überflüssigen Worte ab, that jede Arbeit selbst, die ein An¬
derer nicht schnell begriff oder der sich irgend ein College zu entziehen an¬
schickte. Um 6^/2 Uhr versammelten sich die Aerzte beim Frühstück in der oben¬
erwähnten Halle, die mit der Zeit einen wohnlichen Charakter annahm. Nach¬
dem ein Arzt infolge der primitiven Einrichtung dieses Speisesaals an der
Lungenentzündung lebensgefährlich erkrankt, ein Anderer eine Halsentzündung
davongetragen hatte, kamen Bretter und Decken unter den Eßtisch, der
endlich aus langen Dielen bestand, die auf Holzböcken ruhend mit Lein»
wand und Wachstuch bekleidet wurden. Ein Segeltuch hielt vom Ein¬
gang her den Zug ab, und ein Kochheerd die Speisen warm. Um 7 Uhr
eilten die Aerzte aus ihre Abtheilungen, wo sie, da wir nur sehr schwer
Verwundete hatten, die Verbände selbst anlegten. Um 11 Uhr erhielten
die Pfleglinge das sogenannte Dejeuner, daß sich vom deutschen Mittags¬
essen in nichts unterschied, als daß die Suppe schlechter war, als man sie
in Spitalküchen findet. Die Fleischbrühe, künstlich gefärbt, wechselte in
ihren Zuthaten ab mit Brod und Nudeln. Letztere aus Wasser und Mehl
bestehend, schmeckten wie Mehlpappe, und es dauerte mehrere Tage, bis
unserer deutschen Pflegerin gelang, kräftigenden Nahrung einzuführen. Um
1 Uhr setzten sich die Aerzte und das Hilfspersonal zu Tisch. Unsere Pflege¬
rin, welche mit der Expedition aus Deutschland gekommen war, behandelte
das gesammte Personal als ein im Dienst der Menschheit stehendes Material
und jeden Einzelnen nach der Bedeutung, die er als Werkzeug für's große
Ganze einnahm. Dafür mußte sie sich die Zurechtweisung von Seiten un¬
seres wachsamen. Oberhauptes gefallen lassen. Heine bestand auf strenger
Gleichberechtigung. Damit unsern Aerzten, die einen mühevollen Dienst
hatten, nichts entzogen wurde, machte unsere Pflegerin erfolgreiche Anstreng¬
ungen, unseren Zustand im Allgemeinen zu verbessern, und wir lebten wie eine
Familie, Leid und Freud^ brüderlich mit einander theilend. — Nach Tisch folgten
wir Heine in das Operationszimmer, dahin, wo der Chirurg allein im Dienst
der Wissenschaft steht. Hier entfaltet sich seine Bedeutung als Mensch in
edelster Weise, da er hier im reinsten Sinne des Wortes Mensch sein muß,
wenn er nicht fühllos werden soll. Dort, wo ein scharfer Blick, rasches Ur¬
theilsvermögen, kühne Thatkraft und eine sichere feine Hand nothwendige
Bedingungen des Gelingens sind, wo es um Leben und Tod sich handelt,
habe ich oft mir eine Bildnerhand herbeigewünscht, um die entscheidenden
Momente der ärztlichen Kunst zu erfassen und sie der Mit- und Nach¬
welt zu überliefern. Sind die ersten Schauer des Grauens und des
herzbrechenden Mitleidens überwunden, so hebt man sich empor, gestützt auf


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/87>, abgerufen am 28.09.2024.