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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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zu überreichen, Ihr Erzdemokraten Ihr! Der Reichstag ist todt. Aber die
Todten reiten schnelle, sagt Bürger's Lenore.

Zuerst sagt Ihr, der Reichstag ist todt; und dann geht Ihr diesem
todten Manne mit einer ganzen Reihe von Anträgen unter die Augen, mit
einem endlosen Wunschzettel von allen Rechten und Freiheiten, einem Zettel,
wie ihn kleine Kinder für ihren Geburtstag oder für Weihnachten aufschreiben.
Dann wollt Ihr schon wieder pcipierne Grundrechte haben! El, habt Ihr
sie denn nicht schon in Euerer preußischen Verfassung seit mehr als zwanzig
Jahren, ohne daß sie in die Wirklichkeit übergeführt worden sind? Steht
denn nicht seit 21 Jahren in der preußischen Verfassung die Civilehe? Halst
Du nicht schon seit fünfzehn Jahren alljährlich einige Reden über die Civil¬
ehe? Und was hast Du damit fertig gebracht? Gar nichts. Und jetzt willst
Du die papierne Civilehe auch noch als Grundrecht in die Bundesverfassung
schreiben? Wozu? Damit sie auch im Bunde in den nächsten zwanzig Jahren
noch nicht eingeführt wird? Damit Du auch im Reichstag noch fünfzehn
Jahre alljährlich darüber immer die nämlichen Reden halten kannst, die Nichts
helfen? Nun, ich sollte doch denken, das könntest Du billiger haben! Statt
immer die nämlichen Grundrechte von Neuem auf ein neues Stück Papier zu
schreiben, sorgt doch endlich einmal dafür, daß die alten, die Ihr ja schon
längst habt, verwirklicht werden, und daß man sich in Zukunft einfach kann
beim Oberbürgermeister trauen lassen, statt irgendwo sonst Knallschoten zu
riskiren. Sonst sieht das Ganze ja aus wie Spiegelfechterei. Nicht reden,
nicht schreiben, -- handeln, das ist heut zu Tag die Parole.

Die Regierung war schon so oft in Verlegenheiten, wo sie Euch nöthig
hatte. Wenn Ihr Das benützt, und Ihr gesagt hättet: "Gut, wir wollen Dir
helfen, aber erst einmal her mit der Civilehe", -- wir hätten sie längst. Aber
dazu seid Ihr viel zu unbeholfen. Das ist Euch zu praktisch, zu national¬
liberal, oder wie Ihr das sonst nennt. Ihr zieht die großen Worte vor,
womit man nichts ausrichtet. Einen Erfolg verschmäht Ihr. Das wäre ja
"Schacher". Behüte!

Die Klerikalen, der Reichensperger und der Mallinckrodt, die zeigen
Euch die Zunge, wenn Ihr von der Civilehe redet. Sie sagen Euch ein"
sach: "Ja, das geben wir zu, das ist ein Grundrecht, das steht in der Ver¬
fassung, aber es gefällt uns nicht, und deshalb wird nichts daraus. Denn
das ist ja der Unterschied zwischen Grundrecht und Gesetz, daß das Gesetz
gilt, und das Grundrecht nicht." Und das laßt Ihr Euch gefallen und seid
dabei noch gut Freund mit diesen Leuten, und zieht oft an einem Strang mit
diesen Ultramontanen, welche sich denn auch jetzt gern noch die "Verfassungs¬
treuen" nennen, so recht Euch zum Spott und zum Hohne. Aber Ihr merkt
nichts. Sie haben Euch Euere Wahlsitze in den westlichen Provinzen abge-


zu überreichen, Ihr Erzdemokraten Ihr! Der Reichstag ist todt. Aber die
Todten reiten schnelle, sagt Bürger's Lenore.

Zuerst sagt Ihr, der Reichstag ist todt; und dann geht Ihr diesem
todten Manne mit einer ganzen Reihe von Anträgen unter die Augen, mit
einem endlosen Wunschzettel von allen Rechten und Freiheiten, einem Zettel,
wie ihn kleine Kinder für ihren Geburtstag oder für Weihnachten aufschreiben.
Dann wollt Ihr schon wieder pcipierne Grundrechte haben! El, habt Ihr
sie denn nicht schon in Euerer preußischen Verfassung seit mehr als zwanzig
Jahren, ohne daß sie in die Wirklichkeit übergeführt worden sind? Steht
denn nicht seit 21 Jahren in der preußischen Verfassung die Civilehe? Halst
Du nicht schon seit fünfzehn Jahren alljährlich einige Reden über die Civil¬
ehe? Und was hast Du damit fertig gebracht? Gar nichts. Und jetzt willst
Du die papierne Civilehe auch noch als Grundrecht in die Bundesverfassung
schreiben? Wozu? Damit sie auch im Bunde in den nächsten zwanzig Jahren
noch nicht eingeführt wird? Damit Du auch im Reichstag noch fünfzehn
Jahre alljährlich darüber immer die nämlichen Reden halten kannst, die Nichts
helfen? Nun, ich sollte doch denken, das könntest Du billiger haben! Statt
immer die nämlichen Grundrechte von Neuem auf ein neues Stück Papier zu
schreiben, sorgt doch endlich einmal dafür, daß die alten, die Ihr ja schon
längst habt, verwirklicht werden, und daß man sich in Zukunft einfach kann
beim Oberbürgermeister trauen lassen, statt irgendwo sonst Knallschoten zu
riskiren. Sonst sieht das Ganze ja aus wie Spiegelfechterei. Nicht reden,
nicht schreiben, — handeln, das ist heut zu Tag die Parole.

Die Regierung war schon so oft in Verlegenheiten, wo sie Euch nöthig
hatte. Wenn Ihr Das benützt, und Ihr gesagt hättet: „Gut, wir wollen Dir
helfen, aber erst einmal her mit der Civilehe", — wir hätten sie längst. Aber
dazu seid Ihr viel zu unbeholfen. Das ist Euch zu praktisch, zu national¬
liberal, oder wie Ihr das sonst nennt. Ihr zieht die großen Worte vor,
womit man nichts ausrichtet. Einen Erfolg verschmäht Ihr. Das wäre ja
„Schacher". Behüte!

Die Klerikalen, der Reichensperger und der Mallinckrodt, die zeigen
Euch die Zunge, wenn Ihr von der Civilehe redet. Sie sagen Euch ein»
sach: „Ja, das geben wir zu, das ist ein Grundrecht, das steht in der Ver¬
fassung, aber es gefällt uns nicht, und deshalb wird nichts daraus. Denn
das ist ja der Unterschied zwischen Grundrecht und Gesetz, daß das Gesetz
gilt, und das Grundrecht nicht." Und das laßt Ihr Euch gefallen und seid
dabei noch gut Freund mit diesen Leuten, und zieht oft an einem Strang mit
diesen Ultramontanen, welche sich denn auch jetzt gern noch die „Verfassungs¬
treuen" nennen, so recht Euch zum Spott und zum Hohne. Aber Ihr merkt
nichts. Sie haben Euch Euere Wahlsitze in den westlichen Provinzen abge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/75>, abgerufen am 29.06.2024.