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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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nach seiner Meinung, auch sofort und mit ganzer Kraft geschehn. Die gün¬
stigste Periode, in der die Verwirrung aller militärischen Verhältnisse Frank¬
reichs sich in unglaublicher Weise geltend machte, verging jedoch leider den
Deutschen, welche mit der Kaiserwahl beschäftigt waren, in säumigen Rüster
und mißtrauischen Erwägungen.

Erst am letzten Juli brach die Hauptarmee von Coblenz auf, um über
Luxemburg durch die Pässe des Argonnerwaldes gegen Chalons s. M. zu
operiren. Als sie sich der Grenze näherte, stand die französische Nordarmee
unter Dumouriez zur Hälfte bei Sedan, zur Hälfte bei Metz, während die
Rheinarmee unter Kellermann bei Weißenburg aufgestellt war. Dem vor¬
marschierenden preußischen Hauptheer ergaben sich bis Anfangs September
Longwy und Verdun, und Dumouriez ordnete nun den Rückzug an die
Marne an, um sich hier mit Kellermann zu vereinigen, was auch gelang.
Am 20. September indessen erschienen die Verbündeten auf den Höhen von
Valmy, hinter der linken Flanke, ja nahezu im Rücken der Franzosen.
Aber aus dieser strategisch wunderbar glücklichen Situation entwickelte sich
bekanntlich keine weltgeschichtliche Entscheidungsschlacht, sondern nur eine
Kanonade,, welche für beide Theile fast verlustlos war. und welche seltsamer
Weise dennoch mit dem Rückzüge der Verbündeten endete. Anfangs sollte
derselbe nur bis zur Maas führen, um hier eine Basis zu schaffen für den
im nächsten Frühjahr zu erneuerten Feldzug; da jedoch Oestreich sein Heer
zurückrief und sich die Gegensätze der östlichen Politik, namentlich bezüglich
Polens, bedrohlich verschärften, so wurde der Rückzug bis Luxemburg fort¬
gesetzt, und der Feldzug in der Champagne endete trostlos in jedem Sinne.
Er scheiterte in letzter Instanz an dem gespannten Verhältniß der beiden
deutschen Vormächte; aber auch der Dualismus der Heeresleitung, welche
zwischen dem ritterlich kühnen Könige und dem methodischen, ja pedantischen
Herzoge je länger, je mehr schwankte, die Hemmnisse d>r Kleinstaaterei, die
Verspätung des Feldzugsbeginns, die Nichterfüllung aller Versprechungen der
Emigranten und endlich die Verheerungen der Ruhr hatten großen Antheil
an dem Mißerfolge. -- Was den Feldzug bedeutend machte, das war
seine moralische Wirkung. Die militärische Demoralisation der Franzosen
ließ nach; sie fühlten sich als ebenbürtige, bald genug als überlegene Gegner
der Deutschen, und so führte das Nachspiel dieses Zuges zur Eroberung der
Niederlande und zur Einnahme von Mainz durch die Franzosen. Und nun
trat eine wunderbare schmerzlich gerechte Erscheinung hervor: Wie einst
Heinrich II. und Ludwig XIV. ihre Landräubereien als Beschützer der deut¬
schen "Libertät" ausführten, so erschienen auch jetzt wieder die republikanischen
Heere unter dem lockenden Aushängeschilde der "Iibört6." Und wie jene die


nach seiner Meinung, auch sofort und mit ganzer Kraft geschehn. Die gün¬
stigste Periode, in der die Verwirrung aller militärischen Verhältnisse Frank¬
reichs sich in unglaublicher Weise geltend machte, verging jedoch leider den
Deutschen, welche mit der Kaiserwahl beschäftigt waren, in säumigen Rüster
und mißtrauischen Erwägungen.

Erst am letzten Juli brach die Hauptarmee von Coblenz auf, um über
Luxemburg durch die Pässe des Argonnerwaldes gegen Chalons s. M. zu
operiren. Als sie sich der Grenze näherte, stand die französische Nordarmee
unter Dumouriez zur Hälfte bei Sedan, zur Hälfte bei Metz, während die
Rheinarmee unter Kellermann bei Weißenburg aufgestellt war. Dem vor¬
marschierenden preußischen Hauptheer ergaben sich bis Anfangs September
Longwy und Verdun, und Dumouriez ordnete nun den Rückzug an die
Marne an, um sich hier mit Kellermann zu vereinigen, was auch gelang.
Am 20. September indessen erschienen die Verbündeten auf den Höhen von
Valmy, hinter der linken Flanke, ja nahezu im Rücken der Franzosen.
Aber aus dieser strategisch wunderbar glücklichen Situation entwickelte sich
bekanntlich keine weltgeschichtliche Entscheidungsschlacht, sondern nur eine
Kanonade,, welche für beide Theile fast verlustlos war. und welche seltsamer
Weise dennoch mit dem Rückzüge der Verbündeten endete. Anfangs sollte
derselbe nur bis zur Maas führen, um hier eine Basis zu schaffen für den
im nächsten Frühjahr zu erneuerten Feldzug; da jedoch Oestreich sein Heer
zurückrief und sich die Gegensätze der östlichen Politik, namentlich bezüglich
Polens, bedrohlich verschärften, so wurde der Rückzug bis Luxemburg fort¬
gesetzt, und der Feldzug in der Champagne endete trostlos in jedem Sinne.
Er scheiterte in letzter Instanz an dem gespannten Verhältniß der beiden
deutschen Vormächte; aber auch der Dualismus der Heeresleitung, welche
zwischen dem ritterlich kühnen Könige und dem methodischen, ja pedantischen
Herzoge je länger, je mehr schwankte, die Hemmnisse d>r Kleinstaaterei, die
Verspätung des Feldzugsbeginns, die Nichterfüllung aller Versprechungen der
Emigranten und endlich die Verheerungen der Ruhr hatten großen Antheil
an dem Mißerfolge. — Was den Feldzug bedeutend machte, das war
seine moralische Wirkung. Die militärische Demoralisation der Franzosen
ließ nach; sie fühlten sich als ebenbürtige, bald genug als überlegene Gegner
der Deutschen, und so führte das Nachspiel dieses Zuges zur Eroberung der
Niederlande und zur Einnahme von Mainz durch die Franzosen. Und nun
trat eine wunderbare schmerzlich gerechte Erscheinung hervor: Wie einst
Heinrich II. und Ludwig XIV. ihre Landräubereien als Beschützer der deut¬
schen „Libertät" ausführten, so erschienen auch jetzt wieder die republikanischen
Heere unter dem lockenden Aushängeschilde der „Iibört6." Und wie jene die


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[0498] nach seiner Meinung, auch sofort und mit ganzer Kraft geschehn. Die gün¬ stigste Periode, in der die Verwirrung aller militärischen Verhältnisse Frank¬ reichs sich in unglaublicher Weise geltend machte, verging jedoch leider den Deutschen, welche mit der Kaiserwahl beschäftigt waren, in säumigen Rüster und mißtrauischen Erwägungen. Erst am letzten Juli brach die Hauptarmee von Coblenz auf, um über Luxemburg durch die Pässe des Argonnerwaldes gegen Chalons s. M. zu operiren. Als sie sich der Grenze näherte, stand die französische Nordarmee unter Dumouriez zur Hälfte bei Sedan, zur Hälfte bei Metz, während die Rheinarmee unter Kellermann bei Weißenburg aufgestellt war. Dem vor¬ marschierenden preußischen Hauptheer ergaben sich bis Anfangs September Longwy und Verdun, und Dumouriez ordnete nun den Rückzug an die Marne an, um sich hier mit Kellermann zu vereinigen, was auch gelang. Am 20. September indessen erschienen die Verbündeten auf den Höhen von Valmy, hinter der linken Flanke, ja nahezu im Rücken der Franzosen. Aber aus dieser strategisch wunderbar glücklichen Situation entwickelte sich bekanntlich keine weltgeschichtliche Entscheidungsschlacht, sondern nur eine Kanonade,, welche für beide Theile fast verlustlos war. und welche seltsamer Weise dennoch mit dem Rückzüge der Verbündeten endete. Anfangs sollte derselbe nur bis zur Maas führen, um hier eine Basis zu schaffen für den im nächsten Frühjahr zu erneuerten Feldzug; da jedoch Oestreich sein Heer zurückrief und sich die Gegensätze der östlichen Politik, namentlich bezüglich Polens, bedrohlich verschärften, so wurde der Rückzug bis Luxemburg fort¬ gesetzt, und der Feldzug in der Champagne endete trostlos in jedem Sinne. Er scheiterte in letzter Instanz an dem gespannten Verhältniß der beiden deutschen Vormächte; aber auch der Dualismus der Heeresleitung, welche zwischen dem ritterlich kühnen Könige und dem methodischen, ja pedantischen Herzoge je länger, je mehr schwankte, die Hemmnisse d>r Kleinstaaterei, die Verspätung des Feldzugsbeginns, die Nichterfüllung aller Versprechungen der Emigranten und endlich die Verheerungen der Ruhr hatten großen Antheil an dem Mißerfolge. — Was den Feldzug bedeutend machte, das war seine moralische Wirkung. Die militärische Demoralisation der Franzosen ließ nach; sie fühlten sich als ebenbürtige, bald genug als überlegene Gegner der Deutschen, und so führte das Nachspiel dieses Zuges zur Eroberung der Niederlande und zur Einnahme von Mainz durch die Franzosen. Und nun trat eine wunderbare schmerzlich gerechte Erscheinung hervor: Wie einst Heinrich II. und Ludwig XIV. ihre Landräubereien als Beschützer der deut¬ schen „Libertät" ausführten, so erschienen auch jetzt wieder die republikanischen Heere unter dem lockenden Aushängeschilde der „Iibört6." Und wie jene die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/498>, abgerufen am 26.06.2024.