Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

dem in der Kunstgeschichte beispiellosen Erfolge des Freischützen hatte man der
Euryanthe mit Erwartungen entgegengesehen, die über jedes Maaß hinausgin¬
gen. Dies war an sich gefährlich, selbst wenn W. auf dem Boden geblieben
wäre, auf dem ihm das allgemeine Urtheil die Meisterschaft zusprach; bei der,
in Rückblick auf den Freischütz, vollständigen Andersartigkeit der Euryanthe
in Gestalt und Inhalt, blieben aber jene Erwartungen des Publikums zum
Theil unerfüllt. Die daraus folgende Kühle desselben war für W.'s feine
Empfindung niederdrückend; aber fast erbitternd wirkte die durch den Erfolg
des Freischützen bisher niedergehaltene, jetzt jedoch mit um so feindseligerer
Kritik hervortretende Gegnerschaft mancher Kunstgenossen. Das körperliche
Leiden W.'s, dessen Keime sich langsam, aber desto unheilvoller entwickelt
hatten, trat nunmehr in den Bordergrund und äußerte sich zuvörderst in
einer Abneigung gegen jedes musikalische Produciren seinerseits, welche jenen
erschreckenden, in W.'s bisherigem Leben unerhörten, 16 Monate währenden
Stillstand im Schaffen zur Folge hatte.

Es bedürfte eines äußeren Anstoßes, um sein Schweigen zu brechen.
Kemble, der Director des Londoner Coventgarden-Theaters, machte ihm
den Borschlag, für diese Bühne einen "Faust" oder einen "Oberon" zu
schreiben. W.'s Krankheit nahm indeß einsn immer ernsteren Charakter an,
und ein Besuch Marienbads 1824 blieb resultatlos. Er begann wohl zu
ahnen, daß seines Daseins Stern sich dem Untergange zuneige, daß er alles,
was er noch thun wolle, bald thun müsse, und er fühlte auch, eine letzte
große künstlerische That sei nothwendig. Dazu konnte ihm seiner Familie
Zukunft keineswegs so gesichert erscheinen, wie sie der sorgsame Gatte und
Vater stets erwünscht und erstrebt hatte; seine pecuniären Verhältnisse hatten
sich erst nach dem Freischütz in merklicher Weise gehoben; der Londoner Vor¬
schlag versprach, sie für immer günstig zu gestalten, und so beschloß er denn,
die Frist, von der er wohl fühlte, daß sie ihm kurz zugemessen sei, auszu¬
nutzen zur Abrundung seines Wirkens und zum Wohle der Seinen. Er nahm
Kemble's Vorschlag an; und so wie Spohr einst von der Composition des
"Freischütz" abstand, als er W, damit beschäftigt wußte, so gab W. nun,
Spohr gegenüber, den Faust auf und wählte Oberon.

Wenn es nun aber auch feststeht, daß es zunächst äußerliche Impulse
waren, denen W. folgte, als er die Composition desselben übernahm, so soll
damit doch durchaus nicht gesagt sein, daß er deßhalb etwa geringere An¬
sprüche an sich als Künstler irgendwie zu stellen geneigt gewesen sei; man
darf nicht einmal annehmen, daß er auch nur diese Möglichkett in's Auge
gefaßt, oder daß er sich etwa besonders habe zusammennehmen müssen, um >.
nicht nachzulassen im Streben nach dem Edelsten und Höchsten; ^-- dergleichen
sich überhaupt in's Bewußtsein zu rufen, lag ganz außer dem Kreise seines


Grenzboten I. 1871. 69

dem in der Kunstgeschichte beispiellosen Erfolge des Freischützen hatte man der
Euryanthe mit Erwartungen entgegengesehen, die über jedes Maaß hinausgin¬
gen. Dies war an sich gefährlich, selbst wenn W. auf dem Boden geblieben
wäre, auf dem ihm das allgemeine Urtheil die Meisterschaft zusprach; bei der,
in Rückblick auf den Freischütz, vollständigen Andersartigkeit der Euryanthe
in Gestalt und Inhalt, blieben aber jene Erwartungen des Publikums zum
Theil unerfüllt. Die daraus folgende Kühle desselben war für W.'s feine
Empfindung niederdrückend; aber fast erbitternd wirkte die durch den Erfolg
des Freischützen bisher niedergehaltene, jetzt jedoch mit um so feindseligerer
Kritik hervortretende Gegnerschaft mancher Kunstgenossen. Das körperliche
Leiden W.'s, dessen Keime sich langsam, aber desto unheilvoller entwickelt
hatten, trat nunmehr in den Bordergrund und äußerte sich zuvörderst in
einer Abneigung gegen jedes musikalische Produciren seinerseits, welche jenen
erschreckenden, in W.'s bisherigem Leben unerhörten, 16 Monate währenden
Stillstand im Schaffen zur Folge hatte.

Es bedürfte eines äußeren Anstoßes, um sein Schweigen zu brechen.
Kemble, der Director des Londoner Coventgarden-Theaters, machte ihm
den Borschlag, für diese Bühne einen „Faust" oder einen „Oberon" zu
schreiben. W.'s Krankheit nahm indeß einsn immer ernsteren Charakter an,
und ein Besuch Marienbads 1824 blieb resultatlos. Er begann wohl zu
ahnen, daß seines Daseins Stern sich dem Untergange zuneige, daß er alles,
was er noch thun wolle, bald thun müsse, und er fühlte auch, eine letzte
große künstlerische That sei nothwendig. Dazu konnte ihm seiner Familie
Zukunft keineswegs so gesichert erscheinen, wie sie der sorgsame Gatte und
Vater stets erwünscht und erstrebt hatte; seine pecuniären Verhältnisse hatten
sich erst nach dem Freischütz in merklicher Weise gehoben; der Londoner Vor¬
schlag versprach, sie für immer günstig zu gestalten, und so beschloß er denn,
die Frist, von der er wohl fühlte, daß sie ihm kurz zugemessen sei, auszu¬
nutzen zur Abrundung seines Wirkens und zum Wohle der Seinen. Er nahm
Kemble's Vorschlag an; und so wie Spohr einst von der Composition des
„Freischütz" abstand, als er W, damit beschäftigt wußte, so gab W. nun,
Spohr gegenüber, den Faust auf und wählte Oberon.

Wenn es nun aber auch feststeht, daß es zunächst äußerliche Impulse
waren, denen W. folgte, als er die Composition desselben übernahm, so soll
damit doch durchaus nicht gesagt sein, daß er deßhalb etwa geringere An¬
sprüche an sich als Künstler irgendwie zu stellen geneigt gewesen sei; man
darf nicht einmal annehmen, daß er auch nur diese Möglichkett in's Auge
gefaßt, oder daß er sich etwa besonders habe zusammennehmen müssen, um >.
nicht nachzulassen im Streben nach dem Edelsten und Höchsten; ^— dergleichen
sich überhaupt in's Bewußtsein zu rufen, lag ganz außer dem Kreise seines


Grenzboten I. 1871. 69
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0469" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125713"/>
            <p xml:id="ID_1572" prev="#ID_1571"> dem in der Kunstgeschichte beispiellosen Erfolge des Freischützen hatte man der<lb/>
Euryanthe mit Erwartungen entgegengesehen, die über jedes Maaß hinausgin¬<lb/>
gen. Dies war an sich gefährlich, selbst wenn W. auf dem Boden geblieben<lb/>
wäre, auf dem ihm das allgemeine Urtheil die Meisterschaft zusprach; bei der,<lb/>
in Rückblick auf den Freischütz, vollständigen Andersartigkeit der Euryanthe<lb/>
in Gestalt und Inhalt, blieben aber jene Erwartungen des Publikums zum<lb/>
Theil unerfüllt. Die daraus folgende Kühle desselben war für W.'s feine<lb/>
Empfindung niederdrückend; aber fast erbitternd wirkte die durch den Erfolg<lb/>
des Freischützen bisher niedergehaltene, jetzt jedoch mit um so feindseligerer<lb/>
Kritik hervortretende Gegnerschaft mancher Kunstgenossen. Das körperliche<lb/>
Leiden W.'s, dessen Keime sich langsam, aber desto unheilvoller entwickelt<lb/>
hatten, trat nunmehr in den Bordergrund und äußerte sich zuvörderst in<lb/>
einer Abneigung gegen jedes musikalische Produciren seinerseits, welche jenen<lb/>
erschreckenden, in W.'s bisherigem Leben unerhörten, 16 Monate währenden<lb/>
Stillstand im Schaffen zur Folge hatte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1573"> Es bedürfte eines äußeren Anstoßes, um sein Schweigen zu brechen.<lb/>
Kemble, der Director des Londoner Coventgarden-Theaters, machte ihm<lb/>
den Borschlag, für diese Bühne einen &#x201E;Faust" oder einen &#x201E;Oberon" zu<lb/>
schreiben. W.'s Krankheit nahm indeß einsn immer ernsteren Charakter an,<lb/>
und ein Besuch Marienbads 1824 blieb resultatlos. Er begann wohl zu<lb/>
ahnen, daß seines Daseins Stern sich dem Untergange zuneige, daß er alles,<lb/>
was er noch thun wolle, bald thun müsse, und er fühlte auch, eine letzte<lb/>
große künstlerische That sei nothwendig. Dazu konnte ihm seiner Familie<lb/>
Zukunft keineswegs so gesichert erscheinen, wie sie der sorgsame Gatte und<lb/>
Vater stets erwünscht und erstrebt hatte; seine pecuniären Verhältnisse hatten<lb/>
sich erst nach dem Freischütz in merklicher Weise gehoben; der Londoner Vor¬<lb/>
schlag versprach, sie für immer günstig zu gestalten, und so beschloß er denn,<lb/>
die Frist, von der er wohl fühlte, daß sie ihm kurz zugemessen sei, auszu¬<lb/>
nutzen zur Abrundung seines Wirkens und zum Wohle der Seinen. Er nahm<lb/>
Kemble's Vorschlag an; und so wie Spohr einst von der Composition des<lb/>
&#x201E;Freischütz" abstand, als er W, damit beschäftigt wußte, so gab W. nun,<lb/>
Spohr gegenüber, den Faust auf und wählte Oberon.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1574" next="#ID_1575"> Wenn es nun aber auch feststeht, daß es zunächst äußerliche Impulse<lb/>
waren, denen W. folgte, als er die Composition desselben übernahm, so soll<lb/>
damit doch durchaus nicht gesagt sein, daß er deßhalb etwa geringere An¬<lb/>
sprüche an sich als Künstler irgendwie zu stellen geneigt gewesen sei; man<lb/>
darf nicht einmal annehmen, daß er auch nur diese Möglichkett in's Auge<lb/>
gefaßt, oder daß er sich etwa besonders habe zusammennehmen müssen, um &gt;.<lb/>
nicht nachzulassen im Streben nach dem Edelsten und Höchsten; ^&#x2014; dergleichen<lb/>
sich überhaupt in's Bewußtsein zu rufen, lag ganz außer dem Kreise seines</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I. 1871. 69</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0469] dem in der Kunstgeschichte beispiellosen Erfolge des Freischützen hatte man der Euryanthe mit Erwartungen entgegengesehen, die über jedes Maaß hinausgin¬ gen. Dies war an sich gefährlich, selbst wenn W. auf dem Boden geblieben wäre, auf dem ihm das allgemeine Urtheil die Meisterschaft zusprach; bei der, in Rückblick auf den Freischütz, vollständigen Andersartigkeit der Euryanthe in Gestalt und Inhalt, blieben aber jene Erwartungen des Publikums zum Theil unerfüllt. Die daraus folgende Kühle desselben war für W.'s feine Empfindung niederdrückend; aber fast erbitternd wirkte die durch den Erfolg des Freischützen bisher niedergehaltene, jetzt jedoch mit um so feindseligerer Kritik hervortretende Gegnerschaft mancher Kunstgenossen. Das körperliche Leiden W.'s, dessen Keime sich langsam, aber desto unheilvoller entwickelt hatten, trat nunmehr in den Bordergrund und äußerte sich zuvörderst in einer Abneigung gegen jedes musikalische Produciren seinerseits, welche jenen erschreckenden, in W.'s bisherigem Leben unerhörten, 16 Monate währenden Stillstand im Schaffen zur Folge hatte. Es bedürfte eines äußeren Anstoßes, um sein Schweigen zu brechen. Kemble, der Director des Londoner Coventgarden-Theaters, machte ihm den Borschlag, für diese Bühne einen „Faust" oder einen „Oberon" zu schreiben. W.'s Krankheit nahm indeß einsn immer ernsteren Charakter an, und ein Besuch Marienbads 1824 blieb resultatlos. Er begann wohl zu ahnen, daß seines Daseins Stern sich dem Untergange zuneige, daß er alles, was er noch thun wolle, bald thun müsse, und er fühlte auch, eine letzte große künstlerische That sei nothwendig. Dazu konnte ihm seiner Familie Zukunft keineswegs so gesichert erscheinen, wie sie der sorgsame Gatte und Vater stets erwünscht und erstrebt hatte; seine pecuniären Verhältnisse hatten sich erst nach dem Freischütz in merklicher Weise gehoben; der Londoner Vor¬ schlag versprach, sie für immer günstig zu gestalten, und so beschloß er denn, die Frist, von der er wohl fühlte, daß sie ihm kurz zugemessen sei, auszu¬ nutzen zur Abrundung seines Wirkens und zum Wohle der Seinen. Er nahm Kemble's Vorschlag an; und so wie Spohr einst von der Composition des „Freischütz" abstand, als er W, damit beschäftigt wußte, so gab W. nun, Spohr gegenüber, den Faust auf und wählte Oberon. Wenn es nun aber auch feststeht, daß es zunächst äußerliche Impulse waren, denen W. folgte, als er die Composition desselben übernahm, so soll damit doch durchaus nicht gesagt sein, daß er deßhalb etwa geringere An¬ sprüche an sich als Künstler irgendwie zu stellen geneigt gewesen sei; man darf nicht einmal annehmen, daß er auch nur diese Möglichkett in's Auge gefaßt, oder daß er sich etwa besonders habe zusammennehmen müssen, um >. nicht nachzulassen im Streben nach dem Edelsten und Höchsten; ^— dergleichen sich überhaupt in's Bewußtsein zu rufen, lag ganz außer dem Kreise seines Grenzboten I. 1871. 69

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/469
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/469>, abgerufen am 22.07.2024.