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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Haltung, welche unsere Parteien im preußischen Landtag eingenommen haben,
nicht ohne bestimmenden Einfluß sein konnte. Mit dem Erstarken unseres
parlamentarischen Lebens geht ein festeres Hervortreten der Parteien als solcher
nothwendig parallel, und grade in den letzten Wochen, während deren Preußens
Vertreter hier versammelt waren, sahen wir dieselben Parteien, die sich im
norddeutschen Reichstag 1867-1870 ausgebildet hatten, mit denselben Mitteln
operiren, welche die Reichstagspraxis an die Hand gegeben hatte. Der Ab¬
geordnete Windthorst klagte ausdrücklich darüber, daß alles, was im Hause
geschehe, bereits nur noch nach Vereinbarung der einzelnen Fractivnsausschüsse
stattfinde. Allein diese Klage ist wirkungslos verhallt. Im Gegentheil die
Macht dieses "Seniorenconvents" blieb dauernd im Steigen, und die Thatsache,
daß fast alle positiven Vorgänge und legislativen Erfolge durch einen Com-
promiß der constituirten Parteien nachgrade möglich geworden sind, hat den
größten Theil unserer "Wilden" bewogen, sich gleichfalls über eine fractions-
ähnliche Vertretung ihrer Interessen in Einvernehmen zu setzen. Wenn diese
Bestrebungen auch zunächst nur den Ausgang hatten, daß der vorgeschrittenere
Theil der Wilden sich als linkes Centrum neben die Fortschrittspartei setzte,
so wurde doch eben dadurch constatirt, daß in immer steigenderem Maße für
den deutschen Parlamentarismus ein Proceß der Corporationsbildung statt¬
findet, und daß der einzelne Abgeordnete seine Bedeutung wesentlich durch die
Partei erhält, der er als festes Mitglied angehört. Unter einem derartigen
Entwicklungsstadium im öffentlichen Leben unseres Volkes tritt der erste
deutsche Reichstag ins Leben, ganz abweichend von der Constellation, unter
welcher sich das Parlament von 1848-49 und die repräsentative Vertretung
des Nordd. Bundes- und Zollvereins 1867 und 68 bildete. Mehr als jemals
wird der Abgeordnete seine Empfehlung bei den Wählern der Partei zu
danken haben, an welche er sich schließt oder schließen will, nicht seinen
persönlichen Eigenschaften. Wer in die erste verfassungsmäßige deutsche Ge-
sammtvertretung gelangen will, hat seinen Wählern auf die Frage zu antworten:
Was bist Du? nicht was willst oder kannst Du?

Dessen waren sich unsere Parteien im preußischen Landtag wohl bewußt;
die Sitzungen wurden großentheils nur als Mittel angesehen, Parteizwecke
und Parteistellung gegenüber den großen nationalen Aufgaben darzulegen,
welche unseres Reichstags harren. Ungescheut enthüllten die als "Centrum"
so, wie schon einmal vor einem Jahrzehnt, vereinigten Ultramontanen ihre
weitgehendsten Ziele, um für die Bevölkerung in Schlesien, Rheinland, West¬
falen und einen Theil von Hannover keinen Zweifel daran zu lassen, daß sie
direct zur kathol. Hierarchie des Mittelalters zurücksteuern wollen; Polen
und Dänen entwickelten ihren negativen Standpunct gegenüber der Neu¬
gestaltung des Reichs durch Demonstration; Preußens Altconservative ent-


Haltung, welche unsere Parteien im preußischen Landtag eingenommen haben,
nicht ohne bestimmenden Einfluß sein konnte. Mit dem Erstarken unseres
parlamentarischen Lebens geht ein festeres Hervortreten der Parteien als solcher
nothwendig parallel, und grade in den letzten Wochen, während deren Preußens
Vertreter hier versammelt waren, sahen wir dieselben Parteien, die sich im
norddeutschen Reichstag 1867-1870 ausgebildet hatten, mit denselben Mitteln
operiren, welche die Reichstagspraxis an die Hand gegeben hatte. Der Ab¬
geordnete Windthorst klagte ausdrücklich darüber, daß alles, was im Hause
geschehe, bereits nur noch nach Vereinbarung der einzelnen Fractivnsausschüsse
stattfinde. Allein diese Klage ist wirkungslos verhallt. Im Gegentheil die
Macht dieses „Seniorenconvents" blieb dauernd im Steigen, und die Thatsache,
daß fast alle positiven Vorgänge und legislativen Erfolge durch einen Com-
promiß der constituirten Parteien nachgrade möglich geworden sind, hat den
größten Theil unserer „Wilden" bewogen, sich gleichfalls über eine fractions-
ähnliche Vertretung ihrer Interessen in Einvernehmen zu setzen. Wenn diese
Bestrebungen auch zunächst nur den Ausgang hatten, daß der vorgeschrittenere
Theil der Wilden sich als linkes Centrum neben die Fortschrittspartei setzte,
so wurde doch eben dadurch constatirt, daß in immer steigenderem Maße für
den deutschen Parlamentarismus ein Proceß der Corporationsbildung statt¬
findet, und daß der einzelne Abgeordnete seine Bedeutung wesentlich durch die
Partei erhält, der er als festes Mitglied angehört. Unter einem derartigen
Entwicklungsstadium im öffentlichen Leben unseres Volkes tritt der erste
deutsche Reichstag ins Leben, ganz abweichend von der Constellation, unter
welcher sich das Parlament von 1848-49 und die repräsentative Vertretung
des Nordd. Bundes- und Zollvereins 1867 und 68 bildete. Mehr als jemals
wird der Abgeordnete seine Empfehlung bei den Wählern der Partei zu
danken haben, an welche er sich schließt oder schließen will, nicht seinen
persönlichen Eigenschaften. Wer in die erste verfassungsmäßige deutsche Ge-
sammtvertretung gelangen will, hat seinen Wählern auf die Frage zu antworten:
Was bist Du? nicht was willst oder kannst Du?

Dessen waren sich unsere Parteien im preußischen Landtag wohl bewußt;
die Sitzungen wurden großentheils nur als Mittel angesehen, Parteizwecke
und Parteistellung gegenüber den großen nationalen Aufgaben darzulegen,
welche unseres Reichstags harren. Ungescheut enthüllten die als „Centrum"
so, wie schon einmal vor einem Jahrzehnt, vereinigten Ultramontanen ihre
weitgehendsten Ziele, um für die Bevölkerung in Schlesien, Rheinland, West¬
falen und einen Theil von Hannover keinen Zweifel daran zu lassen, daß sie
direct zur kathol. Hierarchie des Mittelalters zurücksteuern wollen; Polen
und Dänen entwickelten ihren negativen Standpunct gegenüber der Neu¬
gestaltung des Reichs durch Demonstration; Preußens Altconservative ent-


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[0430] Haltung, welche unsere Parteien im preußischen Landtag eingenommen haben, nicht ohne bestimmenden Einfluß sein konnte. Mit dem Erstarken unseres parlamentarischen Lebens geht ein festeres Hervortreten der Parteien als solcher nothwendig parallel, und grade in den letzten Wochen, während deren Preußens Vertreter hier versammelt waren, sahen wir dieselben Parteien, die sich im norddeutschen Reichstag 1867-1870 ausgebildet hatten, mit denselben Mitteln operiren, welche die Reichstagspraxis an die Hand gegeben hatte. Der Ab¬ geordnete Windthorst klagte ausdrücklich darüber, daß alles, was im Hause geschehe, bereits nur noch nach Vereinbarung der einzelnen Fractivnsausschüsse stattfinde. Allein diese Klage ist wirkungslos verhallt. Im Gegentheil die Macht dieses „Seniorenconvents" blieb dauernd im Steigen, und die Thatsache, daß fast alle positiven Vorgänge und legislativen Erfolge durch einen Com- promiß der constituirten Parteien nachgrade möglich geworden sind, hat den größten Theil unserer „Wilden" bewogen, sich gleichfalls über eine fractions- ähnliche Vertretung ihrer Interessen in Einvernehmen zu setzen. Wenn diese Bestrebungen auch zunächst nur den Ausgang hatten, daß der vorgeschrittenere Theil der Wilden sich als linkes Centrum neben die Fortschrittspartei setzte, so wurde doch eben dadurch constatirt, daß in immer steigenderem Maße für den deutschen Parlamentarismus ein Proceß der Corporationsbildung statt¬ findet, und daß der einzelne Abgeordnete seine Bedeutung wesentlich durch die Partei erhält, der er als festes Mitglied angehört. Unter einem derartigen Entwicklungsstadium im öffentlichen Leben unseres Volkes tritt der erste deutsche Reichstag ins Leben, ganz abweichend von der Constellation, unter welcher sich das Parlament von 1848-49 und die repräsentative Vertretung des Nordd. Bundes- und Zollvereins 1867 und 68 bildete. Mehr als jemals wird der Abgeordnete seine Empfehlung bei den Wählern der Partei zu danken haben, an welche er sich schließt oder schließen will, nicht seinen persönlichen Eigenschaften. Wer in die erste verfassungsmäßige deutsche Ge- sammtvertretung gelangen will, hat seinen Wählern auf die Frage zu antworten: Was bist Du? nicht was willst oder kannst Du? Dessen waren sich unsere Parteien im preußischen Landtag wohl bewußt; die Sitzungen wurden großentheils nur als Mittel angesehen, Parteizwecke und Parteistellung gegenüber den großen nationalen Aufgaben darzulegen, welche unseres Reichstags harren. Ungescheut enthüllten die als „Centrum" so, wie schon einmal vor einem Jahrzehnt, vereinigten Ultramontanen ihre weitgehendsten Ziele, um für die Bevölkerung in Schlesien, Rheinland, West¬ falen und einen Theil von Hannover keinen Zweifel daran zu lassen, daß sie direct zur kathol. Hierarchie des Mittelalters zurücksteuern wollen; Polen und Dänen entwickelten ihren negativen Standpunct gegenüber der Neu¬ gestaltung des Reichs durch Demonstration; Preußens Altconservative ent-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/430>, abgerufen am 22.07.2024.