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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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uns hier vergönnt, vor der Hand eins ins Auge zu fassen: das freiwillige
Bildungswesen Deutschlands.'

Man kann von der Einseitigkeit der Ansichten Buckle's und derMan¬
chesterschule über den Krieg völlig frei sein -- was für den Preußen übrigens
ebenso leicht, wie für den Engländer schwer ist, -- man kann sich sogar zu der
idealen Auffassung Heinrich von Treitschke's über das letzte Mittel der Politik
bekennen, aber man wird doch zugeben müssen, daß der Rückschlag, welcher
selbst nach einem so glücklich geführten Kriege, wie der jetzige, unausbleiblich
erfolgen muß, nicht anders als eine Zeit lang lähmend auf die Interessen
der allgemeinen Bildung wirken kann. Man bedenke die Stockung, die unsere
Fabrikthätigkeit, unser Land- und Seehandel, unsere Rhederei erlitten; den
Kampf aus Leben und Tod, den der Eintritt Lothringens und des Elsasses
vielen Fabrikzweigen bereiten wird, die zahlreichen Gefallenen, denen im Laufe
der nächsten Jahre fast ebensoviel an den Folgen der Wunden und Strapazen
Dahinsiechende folgen werden, und erwäge den Umstand, daß von dieser
Million deutscher Krieger wenigstens die Hälfte, die der Reserve und Land¬
wehr angehören, Erhalter von Familien sind, welche zum Theil Jahre ge¬
brauchen werden, um in denjenigen ökonomischen Zustand zurückzukehren, in
dem sie'sich vor dem Kriege befanden.

Die erste Tugend des Patriotismus ist, sich die vaterländischen Verhältnisse
in ihrer wahren, ungeschminkten Gestalt vor Augen zu halten! Verhehlen wir
uns also nicht, die nächste Folge des Krieges wird eine gewaltige wirthschaft¬
liche Anspannung sein, um das Verlorene wieder einzubringen, um unsere
Stellung auf dem Weltmarkte zu behaupten, womöglich zu erweitern; aber
diese Periode wird zugleich ein Zeitraum de< politischen Erschlaffung und der
Lähmung des Sinnes für geistigen Fortschritt sein. Zum Erschrecken fast,
wenn dergleichen dem politischen Denker ziemte, haben das die Wahlen zum
preußischen Landtage im November 1870 dargethan: nach der Verkündigung
der Unsehlbarkeitslehre, nach dem Sturze des Kirchenstaates tritt die ultra-
montane Partei zahlreicher als je in geschlossener Phalanx in den preußischen
Landtag! Die Zeitabschnitte nach dem Freiheitskriegen, nach der Revolution
von 1848, ja selbst nach dem kurzen Kriege von 1866 weisen die gleichen Er¬
scheinungen auf. Nach 1815 und 1848, wo die deutsche Nation nichts anderes
als jetzt erstrebt hatte und, erschöpft, sich ihren wirthschaftlichen Sorgen über¬
ließ, deuteten die freiheitsfeindlicher Elemente diesen Zeitraum geistiger Le¬
thargie rücksichtslos aus; und gelang uns etwa nach den Siegen von 66
eine Bewegung hervorzurufen, die tief genug gewesen wäre, um den wanken¬
den Bau unseres verkümmerten Unterrichtsministeriums zu erschüttern? Hat
dasselbe Ministerium nicht die Eingriffe des Kölner Erzbischofs in die Lehr,
sreiheit der Hochschule zu Bonn geduldet, in demselben Augenblicke, wo der


uns hier vergönnt, vor der Hand eins ins Auge zu fassen: das freiwillige
Bildungswesen Deutschlands.'

Man kann von der Einseitigkeit der Ansichten Buckle's und derMan¬
chesterschule über den Krieg völlig frei sein — was für den Preußen übrigens
ebenso leicht, wie für den Engländer schwer ist, — man kann sich sogar zu der
idealen Auffassung Heinrich von Treitschke's über das letzte Mittel der Politik
bekennen, aber man wird doch zugeben müssen, daß der Rückschlag, welcher
selbst nach einem so glücklich geführten Kriege, wie der jetzige, unausbleiblich
erfolgen muß, nicht anders als eine Zeit lang lähmend auf die Interessen
der allgemeinen Bildung wirken kann. Man bedenke die Stockung, die unsere
Fabrikthätigkeit, unser Land- und Seehandel, unsere Rhederei erlitten; den
Kampf aus Leben und Tod, den der Eintritt Lothringens und des Elsasses
vielen Fabrikzweigen bereiten wird, die zahlreichen Gefallenen, denen im Laufe
der nächsten Jahre fast ebensoviel an den Folgen der Wunden und Strapazen
Dahinsiechende folgen werden, und erwäge den Umstand, daß von dieser
Million deutscher Krieger wenigstens die Hälfte, die der Reserve und Land¬
wehr angehören, Erhalter von Familien sind, welche zum Theil Jahre ge¬
brauchen werden, um in denjenigen ökonomischen Zustand zurückzukehren, in
dem sie'sich vor dem Kriege befanden.

Die erste Tugend des Patriotismus ist, sich die vaterländischen Verhältnisse
in ihrer wahren, ungeschminkten Gestalt vor Augen zu halten! Verhehlen wir
uns also nicht, die nächste Folge des Krieges wird eine gewaltige wirthschaft¬
liche Anspannung sein, um das Verlorene wieder einzubringen, um unsere
Stellung auf dem Weltmarkte zu behaupten, womöglich zu erweitern; aber
diese Periode wird zugleich ein Zeitraum de< politischen Erschlaffung und der
Lähmung des Sinnes für geistigen Fortschritt sein. Zum Erschrecken fast,
wenn dergleichen dem politischen Denker ziemte, haben das die Wahlen zum
preußischen Landtage im November 1870 dargethan: nach der Verkündigung
der Unsehlbarkeitslehre, nach dem Sturze des Kirchenstaates tritt die ultra-
montane Partei zahlreicher als je in geschlossener Phalanx in den preußischen
Landtag! Die Zeitabschnitte nach dem Freiheitskriegen, nach der Revolution
von 1848, ja selbst nach dem kurzen Kriege von 1866 weisen die gleichen Er¬
scheinungen auf. Nach 1815 und 1848, wo die deutsche Nation nichts anderes
als jetzt erstrebt hatte und, erschöpft, sich ihren wirthschaftlichen Sorgen über¬
ließ, deuteten die freiheitsfeindlicher Elemente diesen Zeitraum geistiger Le¬
thargie rücksichtslos aus; und gelang uns etwa nach den Siegen von 66
eine Bewegung hervorzurufen, die tief genug gewesen wäre, um den wanken¬
den Bau unseres verkümmerten Unterrichtsministeriums zu erschüttern? Hat
dasselbe Ministerium nicht die Eingriffe des Kölner Erzbischofs in die Lehr,
sreiheit der Hochschule zu Bonn geduldet, in demselben Augenblicke, wo der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/34>, abgerufen am 22.07.2024.