Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

an seinem Feste auch geradezu als "Schimmelreiter" dar, und zwar ganz
in derselben Weise wie zu Weihnachten oder zu Pfingsten. Wie zu Weih¬
nachten werden auch die Kinder mit Aepfeln und Nüssen beschenkt, vorzüglich
aber mit "Martinshörnern", einem Gebäck, dessen Form die der Huf¬
eisen des Rosses nachahmt, auf welchem Wodan-Martin reitet. Aber auch
die Erwachsenen kommen nicht zu kurz; sie schmausen zum Martinstrunke die
Martinsgans. "Iß gaus Martini, würfe in tösto Nie.ol.ii!" ist ein alter
Spruch, und er hat seine Begründung nicht sowohl darin,


"Weil die Gans alsdann recht Stück in vollem Fleische stehn,
Auch von der Weide ab und in die Ställe gehn,"

sondern darin, daß auch die Martinsgans ein zum Jahresgotte Wodan
gehöriges, oder doch ihm leicht zu gesellendes uraltes mythologisches Natur-
bild, nämlich das Bild der Sonne ist.


Denn in des Aethers azurblauen Meere,
Das wonnevolle, glanzerfüllte Wogen
In unergründlich tiefen Räumen rollt.
Da schwimmt -- so schauten's einst die Alten an --
Der schönste Wasservogel aller Welten.
Da schwimmt die Sonne leichtgeflügelt hin.
Der Süden nannte lieblich sie den Schwan,
Der rauhe Norden grüßte sie als Gans,
Die dem bescheidnen Sinne schön erschien.
Und dieses Sonncnvogcls leichten Flug,
Der auf der fcuchtverklärten Himmelsbahn
Im Herbst sich tief und immer tiefer senkt,
'
Den trifft zu Tod desWcltenjägers Pfeil.
--- Doch wie um Abschied von der Sonncngans,
Der winterlich verbindenden zu nehmen,
Verordneten die Alten sich ein Fest,
Ein sonnenfest, novemberlich zu feiern.
Da griffen sie von ihrem Hofe auf
Lebendiges Sinnbild jenes Himmelsvogels
Und rupften es und brieten's, und der Gottheit
'
Mit frommem Muth als Opfer brachten sies. --
Und weil's nun einmal Menschcnsitte ist,
Das Sinnbild eines Gottes zu verspeisen,
Wenn man sich mystisch ihm vereinen will,
So thaten's unsre Alten mit der Gans
Denn auch nicht anders. -- Zechend saßen sie
Am stürmischen Novembcrabend froh
Zu feierlichem Opfermahl beisammen.
-- Wenn dann das Sonncnsinnbild, wohl zerlegt,
Im eignen Fette schwimmend, sie entzückte.

an seinem Feste auch geradezu als „Schimmelreiter" dar, und zwar ganz
in derselben Weise wie zu Weihnachten oder zu Pfingsten. Wie zu Weih¬
nachten werden auch die Kinder mit Aepfeln und Nüssen beschenkt, vorzüglich
aber mit „Martinshörnern", einem Gebäck, dessen Form die der Huf¬
eisen des Rosses nachahmt, auf welchem Wodan-Martin reitet. Aber auch
die Erwachsenen kommen nicht zu kurz; sie schmausen zum Martinstrunke die
Martinsgans. „Iß gaus Martini, würfe in tösto Nie.ol.ii!" ist ein alter
Spruch, und er hat seine Begründung nicht sowohl darin,


„Weil die Gans alsdann recht Stück in vollem Fleische stehn,
Auch von der Weide ab und in die Ställe gehn,"

sondern darin, daß auch die Martinsgans ein zum Jahresgotte Wodan
gehöriges, oder doch ihm leicht zu gesellendes uraltes mythologisches Natur-
bild, nämlich das Bild der Sonne ist.


Denn in des Aethers azurblauen Meere,
Das wonnevolle, glanzerfüllte Wogen
In unergründlich tiefen Räumen rollt.
Da schwimmt — so schauten's einst die Alten an —
Der schönste Wasservogel aller Welten.
Da schwimmt die Sonne leichtgeflügelt hin.
Der Süden nannte lieblich sie den Schwan,
Der rauhe Norden grüßte sie als Gans,
Die dem bescheidnen Sinne schön erschien.
Und dieses Sonncnvogcls leichten Flug,
Der auf der fcuchtverklärten Himmelsbahn
Im Herbst sich tief und immer tiefer senkt,
'
Den trifft zu Tod desWcltenjägers Pfeil.
—- Doch wie um Abschied von der Sonncngans,
Der winterlich verbindenden zu nehmen,
Verordneten die Alten sich ein Fest,
Ein sonnenfest, novemberlich zu feiern.
Da griffen sie von ihrem Hofe auf
Lebendiges Sinnbild jenes Himmelsvogels
Und rupften es und brieten's, und der Gottheit
'
Mit frommem Muth als Opfer brachten sies. —
Und weil's nun einmal Menschcnsitte ist,
Das Sinnbild eines Gottes zu verspeisen,
Wenn man sich mystisch ihm vereinen will,
So thaten's unsre Alten mit der Gans
Denn auch nicht anders. — Zechend saßen sie
Am stürmischen Novembcrabend froh
Zu feierlichem Opfermahl beisammen.
— Wenn dann das Sonncnsinnbild, wohl zerlegt,
Im eignen Fette schwimmend, sie entzückte.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0310" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125554"/>
          <p xml:id="ID_1116" prev="#ID_1115"> an seinem Feste auch geradezu als &#x201E;Schimmelreiter" dar, und zwar ganz<lb/>
in derselben Weise wie zu Weihnachten oder zu Pfingsten. Wie zu Weih¬<lb/>
nachten werden auch die Kinder mit Aepfeln und Nüssen beschenkt, vorzüglich<lb/>
aber mit &#x201E;Martinshörnern", einem Gebäck, dessen Form die der Huf¬<lb/>
eisen des Rosses nachahmt, auf welchem Wodan-Martin reitet. Aber auch<lb/>
die Erwachsenen kommen nicht zu kurz; sie schmausen zum Martinstrunke die<lb/>
Martinsgans. &#x201E;Iß gaus Martini, würfe in tösto Nie.ol.ii!" ist ein alter<lb/>
Spruch, und er hat seine Begründung nicht sowohl darin,</p><lb/>
          <quote> &#x201E;Weil die Gans alsdann recht Stück in vollem Fleische stehn,<lb/>
Auch von der Weide ab und in die Ställe gehn,"</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_1117"> sondern darin, daß auch die Martinsgans ein zum Jahresgotte Wodan<lb/>
gehöriges, oder doch ihm leicht zu gesellendes uraltes mythologisches Natur-<lb/>
bild, nämlich das Bild der Sonne ist.</p><lb/>
          <quote>
            <lg xml:id="POEMID_20" type="poem">
              <l> Denn in des Aethers azurblauen Meere,<lb/>
Das wonnevolle, glanzerfüllte Wogen<lb/>
In unergründlich tiefen Räumen rollt.<lb/>
Da schwimmt &#x2014; so schauten's einst die Alten an &#x2014;<lb/>
Der schönste Wasservogel aller Welten.<lb/>
Da schwimmt die Sonne leichtgeflügelt hin.<lb/>
Der Süden nannte lieblich sie den Schwan,<lb/>
Der rauhe Norden grüßte sie als Gans,<lb/>
Die dem bescheidnen Sinne schön erschien.<lb/>
Und dieses Sonncnvogcls leichten Flug,<lb/>
Der auf der fcuchtverklärten Himmelsbahn<lb/>
Im Herbst sich tief und immer tiefer senkt,<lb/>
'<lb/>
Den trifft zu Tod desWcltenjägers Pfeil.<lb/>
&#x2014;- Doch wie um Abschied von der Sonncngans,<lb/>
Der winterlich verbindenden zu nehmen,<lb/>
Verordneten die Alten sich ein Fest,<lb/>
Ein sonnenfest, novemberlich zu feiern.<lb/>
Da griffen sie von ihrem Hofe auf<lb/>
Lebendiges Sinnbild jenes Himmelsvogels<lb/>
Und rupften es und brieten's, und der Gottheit<lb/>
'<lb/>
Mit frommem Muth als Opfer brachten sies. &#x2014;<lb/>
Und weil's nun einmal Menschcnsitte ist,<lb/>
Das Sinnbild eines Gottes zu verspeisen,<lb/>
Wenn man sich mystisch ihm vereinen will,<lb/>
So thaten's unsre Alten mit der Gans<lb/>
Denn auch nicht anders. &#x2014; Zechend saßen sie<lb/>
Am stürmischen Novembcrabend froh<lb/>
Zu feierlichem Opfermahl beisammen.<lb/>
&#x2014; Wenn dann das Sonncnsinnbild, wohl zerlegt,<lb/>
Im eignen Fette schwimmend, sie entzückte.<lb/></l>
            </lg>
          </quote><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0310] an seinem Feste auch geradezu als „Schimmelreiter" dar, und zwar ganz in derselben Weise wie zu Weihnachten oder zu Pfingsten. Wie zu Weih¬ nachten werden auch die Kinder mit Aepfeln und Nüssen beschenkt, vorzüglich aber mit „Martinshörnern", einem Gebäck, dessen Form die der Huf¬ eisen des Rosses nachahmt, auf welchem Wodan-Martin reitet. Aber auch die Erwachsenen kommen nicht zu kurz; sie schmausen zum Martinstrunke die Martinsgans. „Iß gaus Martini, würfe in tösto Nie.ol.ii!" ist ein alter Spruch, und er hat seine Begründung nicht sowohl darin, „Weil die Gans alsdann recht Stück in vollem Fleische stehn, Auch von der Weide ab und in die Ställe gehn," sondern darin, daß auch die Martinsgans ein zum Jahresgotte Wodan gehöriges, oder doch ihm leicht zu gesellendes uraltes mythologisches Natur- bild, nämlich das Bild der Sonne ist. Denn in des Aethers azurblauen Meere, Das wonnevolle, glanzerfüllte Wogen In unergründlich tiefen Räumen rollt. Da schwimmt — so schauten's einst die Alten an — Der schönste Wasservogel aller Welten. Da schwimmt die Sonne leichtgeflügelt hin. Der Süden nannte lieblich sie den Schwan, Der rauhe Norden grüßte sie als Gans, Die dem bescheidnen Sinne schön erschien. Und dieses Sonncnvogcls leichten Flug, Der auf der fcuchtverklärten Himmelsbahn Im Herbst sich tief und immer tiefer senkt, ' Den trifft zu Tod desWcltenjägers Pfeil. —- Doch wie um Abschied von der Sonncngans, Der winterlich verbindenden zu nehmen, Verordneten die Alten sich ein Fest, Ein sonnenfest, novemberlich zu feiern. Da griffen sie von ihrem Hofe auf Lebendiges Sinnbild jenes Himmelsvogels Und rupften es und brieten's, und der Gottheit ' Mit frommem Muth als Opfer brachten sies. — Und weil's nun einmal Menschcnsitte ist, Das Sinnbild eines Gottes zu verspeisen, Wenn man sich mystisch ihm vereinen will, So thaten's unsre Alten mit der Gans Denn auch nicht anders. — Zechend saßen sie Am stürmischen Novembcrabend froh Zu feierlichem Opfermahl beisammen. — Wenn dann das Sonncnsinnbild, wohl zerlegt, Im eignen Fette schwimmend, sie entzückte.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/310
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/310>, abgerufen am 28.09.2024.