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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Verhältnisse die personificirte saure Gurke geworden war. Zu dieser Meta¬
morphose mag auch der Umstand beigetragen haben, daß er die genannte essig¬
getränkte Frucht außerordentlich liebte und stets aß, wobei er die Redensart
im Munde führte: "Sauer macht lustig" und zugleich dieselbe mittels seiner
eigenen Person thatsächlich widerlegte.

Gleichwohl war dieser Beamte, trotz aller äußerlich zur Schau getragenen
Giftigkeit, ein guter Kerl. Er verschaffte mir ein Pöstchen bei der Vossischen
Zeitung, welche er als oberste Autorität in Staatsaffairen und in Kriegs¬
angelegenheiten verehrte. Auch räumte er mir gegen ein billiges Stück
Geld ein Zimmerchen ein, das aus einem andern Flur lag und 8 Schritte
lang und 4 breit war. Die Wand, welche es von der benachbarten Familien-
Wohnung trennte, war sehr dünn; und so mußte ich wider Willen hören,
was in dem Nachbarzimmer vorging. Bei Tag war es ganz stille. Aber
zu jener Stunde der Nacht, wo der erste Schlummer auf das müde Haupt
des armen Sterblichen herabsinkt, dann begann sichs zu regen. Nun Pflegte
der große Politiker Doctor Bratenriecher aus der Stammkneipe, oder der
Fraction, oder dem Vorstande, oder dem Bezirksverein, oder dem Comite (denn
er gehörte nicht weniger als 27 Comite's der verschiedensten Richtungen an)
nach Hause zu kehren, und seine geliebte Gattin hielt ihm, der fast stets selbst
Vorträge zu halten pflegte nun ihrer Seits regelmäßig einen Vortrag, --
wahrscheinlich um bei ihm das Gleichgewicht zwischen Vortrags-Einnahme
und Vortragsausgabe wieder herzustellen und ein gutes Saldo zu be¬
werkstelligen.

Ich will von diesen Vorträgen, welchen ich der Autorität des Sir Doug¬
las Jerrold folgend, den Titel "Gardinen-Predigten" gegeben habe, weiter
nichts sagen, als daß sie zur Ausübung der stenographischen Kunst vortreff¬
lich geeignet waren. Bald langsam, schmachtend, oder ruhig fließend, wie das
Bächlein auf der Wiese, -- bald voll reißender Schnelligkeit und Glühhitze,
wie der Samum in der Wüste, -- boten sie alle Tonarten und alle Sprech¬
weisen, alle Tempi und alle Verschiedenheiten, welche dem Stenographen über¬
haupt nur vorkommen können. An ihnen bin ich zum Meister in der Steno¬
graphie geworden. Aber es ist nicht blos Dankbarkeit, wenn ich diese freien
Vorträge der Oeffentlichkeit übergebe, sondern zugleich die innigste Ueber¬
zeugung, daß ihr Studium außerordentlich lehrreich ist für Jedermann aus
dem Volke. Saxisnti sat.


Erste Predigt.
(Die parlamentarische Gattin. "Ihr gab ein Gott, zu sagen, was sie leidet").

Bratenriecher! -- Bratenriecher!! -- Bratenriecher!!! Verstelle Dich doch
nicht. Du thust, als ob Du schon schliefest, und obwohl Du vielleicht etwas


Verhältnisse die personificirte saure Gurke geworden war. Zu dieser Meta¬
morphose mag auch der Umstand beigetragen haben, daß er die genannte essig¬
getränkte Frucht außerordentlich liebte und stets aß, wobei er die Redensart
im Munde führte: „Sauer macht lustig" und zugleich dieselbe mittels seiner
eigenen Person thatsächlich widerlegte.

Gleichwohl war dieser Beamte, trotz aller äußerlich zur Schau getragenen
Giftigkeit, ein guter Kerl. Er verschaffte mir ein Pöstchen bei der Vossischen
Zeitung, welche er als oberste Autorität in Staatsaffairen und in Kriegs¬
angelegenheiten verehrte. Auch räumte er mir gegen ein billiges Stück
Geld ein Zimmerchen ein, das aus einem andern Flur lag und 8 Schritte
lang und 4 breit war. Die Wand, welche es von der benachbarten Familien-
Wohnung trennte, war sehr dünn; und so mußte ich wider Willen hören,
was in dem Nachbarzimmer vorging. Bei Tag war es ganz stille. Aber
zu jener Stunde der Nacht, wo der erste Schlummer auf das müde Haupt
des armen Sterblichen herabsinkt, dann begann sichs zu regen. Nun Pflegte
der große Politiker Doctor Bratenriecher aus der Stammkneipe, oder der
Fraction, oder dem Vorstande, oder dem Bezirksverein, oder dem Comite (denn
er gehörte nicht weniger als 27 Comite's der verschiedensten Richtungen an)
nach Hause zu kehren, und seine geliebte Gattin hielt ihm, der fast stets selbst
Vorträge zu halten pflegte nun ihrer Seits regelmäßig einen Vortrag, —
wahrscheinlich um bei ihm das Gleichgewicht zwischen Vortrags-Einnahme
und Vortragsausgabe wieder herzustellen und ein gutes Saldo zu be¬
werkstelligen.

Ich will von diesen Vorträgen, welchen ich der Autorität des Sir Doug¬
las Jerrold folgend, den Titel „Gardinen-Predigten" gegeben habe, weiter
nichts sagen, als daß sie zur Ausübung der stenographischen Kunst vortreff¬
lich geeignet waren. Bald langsam, schmachtend, oder ruhig fließend, wie das
Bächlein auf der Wiese, — bald voll reißender Schnelligkeit und Glühhitze,
wie der Samum in der Wüste, — boten sie alle Tonarten und alle Sprech¬
weisen, alle Tempi und alle Verschiedenheiten, welche dem Stenographen über¬
haupt nur vorkommen können. An ihnen bin ich zum Meister in der Steno¬
graphie geworden. Aber es ist nicht blos Dankbarkeit, wenn ich diese freien
Vorträge der Oeffentlichkeit übergebe, sondern zugleich die innigste Ueber¬
zeugung, daß ihr Studium außerordentlich lehrreich ist für Jedermann aus
dem Volke. Saxisnti sat.


Erste Predigt.
(Die parlamentarische Gattin. „Ihr gab ein Gott, zu sagen, was sie leidet").

Bratenriecher! — Bratenriecher!! — Bratenriecher!!! Verstelle Dich doch
nicht. Du thust, als ob Du schon schliefest, und obwohl Du vielleicht etwas


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[0028] Verhältnisse die personificirte saure Gurke geworden war. Zu dieser Meta¬ morphose mag auch der Umstand beigetragen haben, daß er die genannte essig¬ getränkte Frucht außerordentlich liebte und stets aß, wobei er die Redensart im Munde führte: „Sauer macht lustig" und zugleich dieselbe mittels seiner eigenen Person thatsächlich widerlegte. Gleichwohl war dieser Beamte, trotz aller äußerlich zur Schau getragenen Giftigkeit, ein guter Kerl. Er verschaffte mir ein Pöstchen bei der Vossischen Zeitung, welche er als oberste Autorität in Staatsaffairen und in Kriegs¬ angelegenheiten verehrte. Auch räumte er mir gegen ein billiges Stück Geld ein Zimmerchen ein, das aus einem andern Flur lag und 8 Schritte lang und 4 breit war. Die Wand, welche es von der benachbarten Familien- Wohnung trennte, war sehr dünn; und so mußte ich wider Willen hören, was in dem Nachbarzimmer vorging. Bei Tag war es ganz stille. Aber zu jener Stunde der Nacht, wo der erste Schlummer auf das müde Haupt des armen Sterblichen herabsinkt, dann begann sichs zu regen. Nun Pflegte der große Politiker Doctor Bratenriecher aus der Stammkneipe, oder der Fraction, oder dem Vorstande, oder dem Bezirksverein, oder dem Comite (denn er gehörte nicht weniger als 27 Comite's der verschiedensten Richtungen an) nach Hause zu kehren, und seine geliebte Gattin hielt ihm, der fast stets selbst Vorträge zu halten pflegte nun ihrer Seits regelmäßig einen Vortrag, — wahrscheinlich um bei ihm das Gleichgewicht zwischen Vortrags-Einnahme und Vortragsausgabe wieder herzustellen und ein gutes Saldo zu be¬ werkstelligen. Ich will von diesen Vorträgen, welchen ich der Autorität des Sir Doug¬ las Jerrold folgend, den Titel „Gardinen-Predigten" gegeben habe, weiter nichts sagen, als daß sie zur Ausübung der stenographischen Kunst vortreff¬ lich geeignet waren. Bald langsam, schmachtend, oder ruhig fließend, wie das Bächlein auf der Wiese, — bald voll reißender Schnelligkeit und Glühhitze, wie der Samum in der Wüste, — boten sie alle Tonarten und alle Sprech¬ weisen, alle Tempi und alle Verschiedenheiten, welche dem Stenographen über¬ haupt nur vorkommen können. An ihnen bin ich zum Meister in der Steno¬ graphie geworden. Aber es ist nicht blos Dankbarkeit, wenn ich diese freien Vorträge der Oeffentlichkeit übergebe, sondern zugleich die innigste Ueber¬ zeugung, daß ihr Studium außerordentlich lehrreich ist für Jedermann aus dem Volke. Saxisnti sat. Erste Predigt. (Die parlamentarische Gattin. „Ihr gab ein Gott, zu sagen, was sie leidet"). Bratenriecher! — Bratenriecher!! — Bratenriecher!!! Verstelle Dich doch nicht. Du thust, als ob Du schon schliefest, und obwohl Du vielleicht etwas

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/28>, abgerufen am 26.06.2024.