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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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und blieb in derselben bis Ende August 1771, wo er nach übersiandener
Promotion ins Vaterhaus zurückkehrte, zwei Sommer und einen Winter. Was
in dieser Zeit mit ihm vorging, ist uns Allen bekannt; oft genug hat man es
gelesen, wie er sich die Sorge für das juristische Examen durch Annahme eines
routinirten Repetenten vom Halse wälzte, wie er sich durch seine medicinischen
Tischgenossen bei den Fräuleins Lauts in der Krämergasse Ur. 13 zum
dilettantischen Betrieb der Medicin locken ließ, wie er alchymistische Experi¬
mente machte, wie er den Bayle, Voltaire, Rousseau, das ZMöms la oa-
tur-z, den Giordano Bruno, Platon's und Mendelssohn's Phädon studirte,
wie ihn Herder in den Wirbel der gähnenden deutschen Literatur riß, wie
er, von ihm angeregt, sich in die Lectüre des Sophokles und Shakespeare, des
Homer und Ossian vertiefte und wie ihm trotz dieses vielseitigen und ver¬
worrenen Studirens und Lesens noch Zeit blieb, dem inneren Gesetze der
Münsterarchitektonik nachzugrübeln, Tanzstunden zu nehmen und Liebe zu
leben und zu dichten.

In lebendiger Erinnerung lebt uns Allen, was in diesen anderthalb
Jahren in des Dichters Kopf und Herzen stürmend und drängend wühlte. Und
Mancher, der das Elsaß betrat, wallfahrtete wohl nach Sesenheim; und die
schöne Liebesidylle zitterte wehmuthvoll in seiner Seele nach. Und auf der
Plattform des Münsters standen wir in nachdenklich bewegter Stimmung vor
dem Namen, den der Frankfurter Musensohn dort eingehauen unter vielen
Namen, groß und klein. Elsaß, ohne Goethe's Straßburger Aufenthalt zu
denken, war uns nimmer möglich.

Aber wenn wir Goethe lasen, geschah uns bis vor Kurzem mit Elsaß,
mit Land und Leuten wohl das Umgedrehte. Alles, was der Dichter davon
in liebevoller Schilderung berichtet, kam uns nur wie Staffage vor; es war
uns dem gegenüber, was er von sich erzählt und berichtet, fast gleichgültig.

Heute darf man wohl etwas mehr Interesse für diese Seite der Goethe-
scher Mittheilungen erwarten. Jedenfalls hat der Dichter mit hingebender
Theilnahme und Hellem Blick, wie es seine Art war,


er hätt ein Auge treu und klug
und wär auch liebevoll genug,
zu schauen Manches klar und rein --

das Leben des Volkes .und die Natur des Landes beobachtet und was er
gesehen und erfahren, in anmuthiger und anschaulicher Darstellung vor uns
ausgebreitet.

Und Zeit und Gelegenheit hat er genug gehabt, um nach allen Seiten
hin seine forschenden Blicke zu lenken. Freilich studirte er gleich seinem Faust
in allen Facultäten mit unruhigem Wissensdurst; aber er that es ohne das
schwere, beklemmende und festgeklemmte Bemühen seines dichterischen Eben-


und blieb in derselben bis Ende August 1771, wo er nach übersiandener
Promotion ins Vaterhaus zurückkehrte, zwei Sommer und einen Winter. Was
in dieser Zeit mit ihm vorging, ist uns Allen bekannt; oft genug hat man es
gelesen, wie er sich die Sorge für das juristische Examen durch Annahme eines
routinirten Repetenten vom Halse wälzte, wie er sich durch seine medicinischen
Tischgenossen bei den Fräuleins Lauts in der Krämergasse Ur. 13 zum
dilettantischen Betrieb der Medicin locken ließ, wie er alchymistische Experi¬
mente machte, wie er den Bayle, Voltaire, Rousseau, das ZMöms la oa-
tur-z, den Giordano Bruno, Platon's und Mendelssohn's Phädon studirte,
wie ihn Herder in den Wirbel der gähnenden deutschen Literatur riß, wie
er, von ihm angeregt, sich in die Lectüre des Sophokles und Shakespeare, des
Homer und Ossian vertiefte und wie ihm trotz dieses vielseitigen und ver¬
worrenen Studirens und Lesens noch Zeit blieb, dem inneren Gesetze der
Münsterarchitektonik nachzugrübeln, Tanzstunden zu nehmen und Liebe zu
leben und zu dichten.

In lebendiger Erinnerung lebt uns Allen, was in diesen anderthalb
Jahren in des Dichters Kopf und Herzen stürmend und drängend wühlte. Und
Mancher, der das Elsaß betrat, wallfahrtete wohl nach Sesenheim; und die
schöne Liebesidylle zitterte wehmuthvoll in seiner Seele nach. Und auf der
Plattform des Münsters standen wir in nachdenklich bewegter Stimmung vor
dem Namen, den der Frankfurter Musensohn dort eingehauen unter vielen
Namen, groß und klein. Elsaß, ohne Goethe's Straßburger Aufenthalt zu
denken, war uns nimmer möglich.

Aber wenn wir Goethe lasen, geschah uns bis vor Kurzem mit Elsaß,
mit Land und Leuten wohl das Umgedrehte. Alles, was der Dichter davon
in liebevoller Schilderung berichtet, kam uns nur wie Staffage vor; es war
uns dem gegenüber, was er von sich erzählt und berichtet, fast gleichgültig.

Heute darf man wohl etwas mehr Interesse für diese Seite der Goethe-
scher Mittheilungen erwarten. Jedenfalls hat der Dichter mit hingebender
Theilnahme und Hellem Blick, wie es seine Art war,


er hätt ein Auge treu und klug
und wär auch liebevoll genug,
zu schauen Manches klar und rein —

das Leben des Volkes .und die Natur des Landes beobachtet und was er
gesehen und erfahren, in anmuthiger und anschaulicher Darstellung vor uns
ausgebreitet.

Und Zeit und Gelegenheit hat er genug gehabt, um nach allen Seiten
hin seine forschenden Blicke zu lenken. Freilich studirte er gleich seinem Faust
in allen Facultäten mit unruhigem Wissensdurst; aber er that es ohne das
schwere, beklemmende und festgeklemmte Bemühen seines dichterischen Eben-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/22>, abgerufen am 26.06.2024.