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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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schloß. Man gewann daraus die Zuversicht, daß die langathmigen und
langwierigen Debatten der Münchener Weisen durch den entschlossenen Act
von Versailles in ein anderes Tempo versetzt werden würden. Das ist denn
durch den heut erfolgten Annahmebeschluß der Münchener Volksvertreter auch
bestätigt worden.

Durch die Wiederbelebung der deutschen Kaiserwürde ist auch ein an¬
derer gordischer Knoten zerhauen worden: die preußische Fortschrittspartei,
in deren seit 1862 überkommenen Bezeichnung "Deutsche Fortschrittspartei"
in letzterer Zeit doch ein hoher Grad von Ironie lag, da die betreffenden Herren
sich seit 1867 ganz entschieden auf den preußischen Particularismus verlegten,
und darauf hin in mehreren Kreisen Westfalens, wo die Bevölkerung noch
aus alten Tagen her gut kurbrandenburgisch gesinnt ist, für den Deutschen
Reichstag gewählt zu werden, Anspruch erhoben. -- Die Fortschrittspartei ist,
wie ihr Moniteur ankündigt, nunmehr auch bereit dem deutschen Verfassungs¬
werk ihren Segen zu ertheilen. Sie beglückt uns mit dem Geständniß, daß
jetzt endlich erreicht sei, was seit mehr denn zwanzig Jahren der Gegenstand
der Sehnsucht des Deutschen Volks gewesen: Kaiserthum und Reich, Parla¬
ment und directes gleiches Wahlrecht.

Im Grunde ist diese "Wendung", wie die Volkszeitung sich ausdrückt,
diese Schwenkung, wie bisher das Zeitungswort lautete, ja recht erfreulich.
Die parlamentarische Entwicklung, das allmählige Hervortreten auch einer re¬
gierungsfähigen liberalen Partei, wie es ja auch jeder Conservative wünschen
muß, wird ja dadurch nur gefördert, daß der nationale Gedanke auch in den
"entschiedenen" Liberalen zum kräftigen Durchbruch kommt. Es wäre zu
wünschen, daß die Bekehrung der alten Parlamentarier, die freilich nur durch
den immer mehr wachsenden Widerwillen unseres Volkes gegen principielle
Opposition erzwungen worden ist, eine nachhaltige sei. Bei der an den König
erlassenen Adresse stimmte der Fortschritt mit den andern Parteien. Nur die
Polen sprachen und stimmten dagegen. Daß sie sich der Abstimmung nicht
enthielten, wurde dadurch motivirt, daß die Adresse einen Annexionswunsch
enthalte. Es war der Würde des Augenblickes angemessen, daß man auf die
betreffende Rede des Abgeordneten Szuman nicht replicirte. Bereits vor
vier Jahren hatte ja der Leiter unserer Politik den slavischen Herren aus
Posen und Westpreußen in Erinnerung gebracht, wie sie bei Gründung und
Erweiterung ihres Staats beständig selber das Recht der Eroberung geübt
hätten. Der diesmalige Protest der Polen konnte ruhig zu den früheren ge¬
legt werden; es wird auch nicht ihr letzter sein. Den Zweck, welchen man
bei ihm verfolgte, wird ja von den Führern der polnischen Bewegung jetzt
je länger desto schärfer ins Auge gefaßt. Dieser Zweck ist kein anderer, als
vor den Augen Europas eine beständige Solidarität der galizischen und der


schloß. Man gewann daraus die Zuversicht, daß die langathmigen und
langwierigen Debatten der Münchener Weisen durch den entschlossenen Act
von Versailles in ein anderes Tempo versetzt werden würden. Das ist denn
durch den heut erfolgten Annahmebeschluß der Münchener Volksvertreter auch
bestätigt worden.

Durch die Wiederbelebung der deutschen Kaiserwürde ist auch ein an¬
derer gordischer Knoten zerhauen worden: die preußische Fortschrittspartei,
in deren seit 1862 überkommenen Bezeichnung „Deutsche Fortschrittspartei"
in letzterer Zeit doch ein hoher Grad von Ironie lag, da die betreffenden Herren
sich seit 1867 ganz entschieden auf den preußischen Particularismus verlegten,
und darauf hin in mehreren Kreisen Westfalens, wo die Bevölkerung noch
aus alten Tagen her gut kurbrandenburgisch gesinnt ist, für den Deutschen
Reichstag gewählt zu werden, Anspruch erhoben. — Die Fortschrittspartei ist,
wie ihr Moniteur ankündigt, nunmehr auch bereit dem deutschen Verfassungs¬
werk ihren Segen zu ertheilen. Sie beglückt uns mit dem Geständniß, daß
jetzt endlich erreicht sei, was seit mehr denn zwanzig Jahren der Gegenstand
der Sehnsucht des Deutschen Volks gewesen: Kaiserthum und Reich, Parla¬
ment und directes gleiches Wahlrecht.

Im Grunde ist diese „Wendung", wie die Volkszeitung sich ausdrückt,
diese Schwenkung, wie bisher das Zeitungswort lautete, ja recht erfreulich.
Die parlamentarische Entwicklung, das allmählige Hervortreten auch einer re¬
gierungsfähigen liberalen Partei, wie es ja auch jeder Conservative wünschen
muß, wird ja dadurch nur gefördert, daß der nationale Gedanke auch in den
„entschiedenen" Liberalen zum kräftigen Durchbruch kommt. Es wäre zu
wünschen, daß die Bekehrung der alten Parlamentarier, die freilich nur durch
den immer mehr wachsenden Widerwillen unseres Volkes gegen principielle
Opposition erzwungen worden ist, eine nachhaltige sei. Bei der an den König
erlassenen Adresse stimmte der Fortschritt mit den andern Parteien. Nur die
Polen sprachen und stimmten dagegen. Daß sie sich der Abstimmung nicht
enthielten, wurde dadurch motivirt, daß die Adresse einen Annexionswunsch
enthalte. Es war der Würde des Augenblickes angemessen, daß man auf die
betreffende Rede des Abgeordneten Szuman nicht replicirte. Bereits vor
vier Jahren hatte ja der Leiter unserer Politik den slavischen Herren aus
Posen und Westpreußen in Erinnerung gebracht, wie sie bei Gründung und
Erweiterung ihres Staats beständig selber das Recht der Eroberung geübt
hätten. Der diesmalige Protest der Polen konnte ruhig zu den früheren ge¬
legt werden; es wird auch nicht ihr letzter sein. Den Zweck, welchen man
bei ihm verfolgte, wird ja von den Führern der polnischen Bewegung jetzt
je länger desto schärfer ins Auge gefaßt. Dieser Zweck ist kein anderer, als
vor den Augen Europas eine beständige Solidarität der galizischen und der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/192>, abgerufen am 26.06.2024.