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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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vollends aufgezehrt wurde. "Nach Berlin! Nach Berlin!" erscholl es
in den Reihen des Heeres, wie auf den Straßen und Plätzen, die eine dicht¬
gedrängte Menge überfluthete.

Nur ein verhältnißmäßig kleiner Theil unter der Bevölkerung sah etwas
klarer, und dachte ein Stückchen weiter hinaus, und von diesen waren es
wieder nur einzelne, die wagten, dem allgemeinen Lärmgeschrei gegenüber
ihre Stimmen zu erheben, die aber zumeist wie das Säuseln des Blattes im
Sturmwind verhallten. Der größere Theil der Presse, das allgemeine Wohl
weniger beachtend, als das eigene Interesse, und so der Strömung von Oben
her willenlos folgend, stieß nicht nur gewaltig mit in die Allarmtrompete, sie
vergaß auch soweit ihre Würde, daß sie Dinge und Vorgänge in der Weise
darstellte, wie es dem Regime zusagte oder geradezu absichtlich entstellte und
so die Wahrheit umging. So wurden Volk und Heer, ohne daß beide eine
Ahnung davon hatten, systematisch irre geleitet.

Die Mißstände bei einer so raschen und beliebigen Zusammensetzung
der größeren Hcertheile stellten sich zunächst heraus. Die Generäle kannten
ihre Corps, Divisionen und Brigaden nicht, und diesen waren jene fremd.
Kein Theil hatte eine Idee von der Kriegstüchtigkeit und dem Geiste des
anderen, und so mußte denn auch das gegenseitige Interesse von vorn herein
fast auf Null herabsinken. Man stimulirte sich gegenseitig durch längst ver¬
brauchte Rodomontaden, man schwatzte von (Aoirc?, graMs Melon, "lau,
man rief sich damit schöne längstvergangene Zeiten ins Gedächtniß zurück und
vergaß darüber die Gegenwart wie die Zukunft, sowie das Wichtigste und
die Hauptaufgabe. Man kann auch hier von dem Gesammtvolke der Fran¬
zosen wie vom Einzelnen sagen: Sie hatten nichts gelernt und nichts ver¬
gessen. --

Das tiefere Erwägen liegt freilich nicht im französischen Volkscharakter;
das leichte Blut, das im Franzmann als einem Romanen rollt, und sein
beweglicher Sinn, lassen ihn nicht recht zur Ruhe und Beschaulichkeit kommen;
aber da, wo es das Wohl und Wehe von Völkern gilt, sollte man sich doch
etwas mehr Zwang anthun. Bei diesen leichtfertigen Anschauungen vergaß
man zunächst der eignen nöthigen Sicherheit nicht fetten so weit, daß das
über alle Maßen hinausging. Dazu kam noch eine erstaunenswerthe Un-
kenntniß von allen Dem, was nicht dicht vor Augen lag. Je mehr sich der
Horizont erweiterte, je mehr nahm diese auch zu. Was jenseits des Rheines
lag, war für den größeren Theil eine terra inevZniw.

Der Sicherheit^ und Kundschaftsdienst war von jeher eine schwache Seite
im französischen Heere und selbst Napoleon I. mußte dieses bekennen, ohne
dem Uebelstande in gewünschter Weise abhelfen zu können. Noch am Schlüsse
seiner kriegerischen Laufbahn mußte ihn diese bittere Erfahrung um die schwer'


vollends aufgezehrt wurde. „Nach Berlin! Nach Berlin!" erscholl es
in den Reihen des Heeres, wie auf den Straßen und Plätzen, die eine dicht¬
gedrängte Menge überfluthete.

Nur ein verhältnißmäßig kleiner Theil unter der Bevölkerung sah etwas
klarer, und dachte ein Stückchen weiter hinaus, und von diesen waren es
wieder nur einzelne, die wagten, dem allgemeinen Lärmgeschrei gegenüber
ihre Stimmen zu erheben, die aber zumeist wie das Säuseln des Blattes im
Sturmwind verhallten. Der größere Theil der Presse, das allgemeine Wohl
weniger beachtend, als das eigene Interesse, und so der Strömung von Oben
her willenlos folgend, stieß nicht nur gewaltig mit in die Allarmtrompete, sie
vergaß auch soweit ihre Würde, daß sie Dinge und Vorgänge in der Weise
darstellte, wie es dem Regime zusagte oder geradezu absichtlich entstellte und
so die Wahrheit umging. So wurden Volk und Heer, ohne daß beide eine
Ahnung davon hatten, systematisch irre geleitet.

Die Mißstände bei einer so raschen und beliebigen Zusammensetzung
der größeren Hcertheile stellten sich zunächst heraus. Die Generäle kannten
ihre Corps, Divisionen und Brigaden nicht, und diesen waren jene fremd.
Kein Theil hatte eine Idee von der Kriegstüchtigkeit und dem Geiste des
anderen, und so mußte denn auch das gegenseitige Interesse von vorn herein
fast auf Null herabsinken. Man stimulirte sich gegenseitig durch längst ver¬
brauchte Rodomontaden, man schwatzte von (Aoirc?, graMs Melon, «lau,
man rief sich damit schöne längstvergangene Zeiten ins Gedächtniß zurück und
vergaß darüber die Gegenwart wie die Zukunft, sowie das Wichtigste und
die Hauptaufgabe. Man kann auch hier von dem Gesammtvolke der Fran¬
zosen wie vom Einzelnen sagen: Sie hatten nichts gelernt und nichts ver¬
gessen. —

Das tiefere Erwägen liegt freilich nicht im französischen Volkscharakter;
das leichte Blut, das im Franzmann als einem Romanen rollt, und sein
beweglicher Sinn, lassen ihn nicht recht zur Ruhe und Beschaulichkeit kommen;
aber da, wo es das Wohl und Wehe von Völkern gilt, sollte man sich doch
etwas mehr Zwang anthun. Bei diesen leichtfertigen Anschauungen vergaß
man zunächst der eignen nöthigen Sicherheit nicht fetten so weit, daß das
über alle Maßen hinausging. Dazu kam noch eine erstaunenswerthe Un-
kenntniß von allen Dem, was nicht dicht vor Augen lag. Je mehr sich der
Horizont erweiterte, je mehr nahm diese auch zu. Was jenseits des Rheines
lag, war für den größeren Theil eine terra inevZniw.

Der Sicherheit^ und Kundschaftsdienst war von jeher eine schwache Seite
im französischen Heere und selbst Napoleon I. mußte dieses bekennen, ohne
dem Uebelstande in gewünschter Weise abhelfen zu können. Noch am Schlüsse
seiner kriegerischen Laufbahn mußte ihn diese bittere Erfahrung um die schwer'


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/186>, abgerufen am 23.07.2024.