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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Darum singt Hölderlin ebenso schön als wahr:


"Treu und freundlich wie du, erzog der Götter und Menschen
Keiner, o Vater Aether! mich auf; noch ehe die Mutter
In die Arme mich nahm und ihre Brüste mich tränkten,
Faßtest du zärtlich mich an und gössest himmlischen Trank mir,
Mir den heiligen Odem zuerst in den keimenden Busen. --
Nicht von irdischer Kraft gedeihen einzig die Wesen;
Aber du nährest sie all' mit deinem Nektar, o Vater!
Und es drängt sich und rinnt aus deiner ewigen Fülle
Die beseelende Luft durch alle Röhren des Lebens."

Wenn so innig und kindlich ein moderner, von der Religion und Philo¬
sophie langer Jahrhunderte erzogener Dichter das Element der Luft verehrend
grüßt, wie gewaltig mußte es da den unentwickelten Naturmenschen zur An¬
betung des heiligen Aethers mahnen. Denn die Luft, welche geathmet das
Leben seines Geistes nährt und auszumachen scheint, muß sie nicht der ur¬
sprünglichen Gottesverehrung das Göttliche selbst sein, und bieten sich nicht ihr
Allumfasser, ihr Allesdurchdringen, ihre Grenzenlosigkeit unwillkürlich dar
als die sinnlichen Attribute auch einer schon hoch entwickelten Gottesvorstel¬
lung?! So ist durchaus verständlich, daß die Luft als eine Gottheit erschien. --

Dazu kam aber noch ein anderes Moment. Jenes "Seele" und "Luft"
bezeichnende Sanscritwort akasa bedeutet eigentlich: der Ellende, d. h. der
sich rastlos bewegende Hauch. Auch diese Jdeenverbindung ist eine uralte und
allgemeine. Wo wir Leben erkennen, da erkennen wir auch Bewegung; wo
Bewegung ist, da vermuthete deshalb der natürliche Mensch sogleich auch
Leben, ja er setzte es mit Bestimmtheit voraus. Nun gibt es aber nichts
Beweglicheres in der Luft, die, in so unendlicher Mannigfaltigkeit vom holden
warmen Hauch einer liebeflüsternden Menschenlippe bis zu der entsetzlichsten
Erschütterung jäher Donnerschläge, vom lauen Hyazinthen-umsäuselnden Früh-
lingszephyr bis zum fürchterlich brausenden Herbstorkan jedesmal eine andere
und doch immer und immer wieder dieselbe ist.

Also auch nach dieser Seite der Bewegung hin stellt sich die Luft recht
eigentlich als die vollkommenste Erscheinungsart des Lebens -- und der Gott¬
heit dar. Denn abhängig von ihrem Wehen und Wesen treten dem Menschen
die ihn zu allernächst berührenden Naturerscheinungen entgegen. Es ist der
Wind, welcher die Schaaren regenspendender segnender Wolken zu uns her
treibt, der Wind, welcher die lastende, trübe Nebeldecke zerreißt, so daß das
himmelsblaue Auge wieder lacht; der Wind ist's, der mit unheimlicher Schnelle
des Gewitters dunkle Wolkenburg am Himmel baut; es ist der Sturm, der
in nächtlichem Wüthen zur Tag. und Nachtgleiche über die Erde braust und
den Lenz emporführt oder den Sommer zu Grabe trägt,


Darum singt Hölderlin ebenso schön als wahr:


„Treu und freundlich wie du, erzog der Götter und Menschen
Keiner, o Vater Aether! mich auf; noch ehe die Mutter
In die Arme mich nahm und ihre Brüste mich tränkten,
Faßtest du zärtlich mich an und gössest himmlischen Trank mir,
Mir den heiligen Odem zuerst in den keimenden Busen. —
Nicht von irdischer Kraft gedeihen einzig die Wesen;
Aber du nährest sie all' mit deinem Nektar, o Vater!
Und es drängt sich und rinnt aus deiner ewigen Fülle
Die beseelende Luft durch alle Röhren des Lebens."

Wenn so innig und kindlich ein moderner, von der Religion und Philo¬
sophie langer Jahrhunderte erzogener Dichter das Element der Luft verehrend
grüßt, wie gewaltig mußte es da den unentwickelten Naturmenschen zur An¬
betung des heiligen Aethers mahnen. Denn die Luft, welche geathmet das
Leben seines Geistes nährt und auszumachen scheint, muß sie nicht der ur¬
sprünglichen Gottesverehrung das Göttliche selbst sein, und bieten sich nicht ihr
Allumfasser, ihr Allesdurchdringen, ihre Grenzenlosigkeit unwillkürlich dar
als die sinnlichen Attribute auch einer schon hoch entwickelten Gottesvorstel¬
lung?! So ist durchaus verständlich, daß die Luft als eine Gottheit erschien. —

Dazu kam aber noch ein anderes Moment. Jenes „Seele" und „Luft"
bezeichnende Sanscritwort akasa bedeutet eigentlich: der Ellende, d. h. der
sich rastlos bewegende Hauch. Auch diese Jdeenverbindung ist eine uralte und
allgemeine. Wo wir Leben erkennen, da erkennen wir auch Bewegung; wo
Bewegung ist, da vermuthete deshalb der natürliche Mensch sogleich auch
Leben, ja er setzte es mit Bestimmtheit voraus. Nun gibt es aber nichts
Beweglicheres in der Luft, die, in so unendlicher Mannigfaltigkeit vom holden
warmen Hauch einer liebeflüsternden Menschenlippe bis zu der entsetzlichsten
Erschütterung jäher Donnerschläge, vom lauen Hyazinthen-umsäuselnden Früh-
lingszephyr bis zum fürchterlich brausenden Herbstorkan jedesmal eine andere
und doch immer und immer wieder dieselbe ist.

Also auch nach dieser Seite der Bewegung hin stellt sich die Luft recht
eigentlich als die vollkommenste Erscheinungsart des Lebens — und der Gott¬
heit dar. Denn abhängig von ihrem Wehen und Wesen treten dem Menschen
die ihn zu allernächst berührenden Naturerscheinungen entgegen. Es ist der
Wind, welcher die Schaaren regenspendender segnender Wolken zu uns her
treibt, der Wind, welcher die lastende, trübe Nebeldecke zerreißt, so daß das
himmelsblaue Auge wieder lacht; der Wind ist's, der mit unheimlicher Schnelle
des Gewitters dunkle Wolkenburg am Himmel baut; es ist der Sturm, der
in nächtlichem Wüthen zur Tag. und Nachtgleiche über die Erde braust und
den Lenz emporführt oder den Sommer zu Grabe trägt,


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[0173] Darum singt Hölderlin ebenso schön als wahr: „Treu und freundlich wie du, erzog der Götter und Menschen Keiner, o Vater Aether! mich auf; noch ehe die Mutter In die Arme mich nahm und ihre Brüste mich tränkten, Faßtest du zärtlich mich an und gössest himmlischen Trank mir, Mir den heiligen Odem zuerst in den keimenden Busen. — Nicht von irdischer Kraft gedeihen einzig die Wesen; Aber du nährest sie all' mit deinem Nektar, o Vater! Und es drängt sich und rinnt aus deiner ewigen Fülle Die beseelende Luft durch alle Röhren des Lebens." Wenn so innig und kindlich ein moderner, von der Religion und Philo¬ sophie langer Jahrhunderte erzogener Dichter das Element der Luft verehrend grüßt, wie gewaltig mußte es da den unentwickelten Naturmenschen zur An¬ betung des heiligen Aethers mahnen. Denn die Luft, welche geathmet das Leben seines Geistes nährt und auszumachen scheint, muß sie nicht der ur¬ sprünglichen Gottesverehrung das Göttliche selbst sein, und bieten sich nicht ihr Allumfasser, ihr Allesdurchdringen, ihre Grenzenlosigkeit unwillkürlich dar als die sinnlichen Attribute auch einer schon hoch entwickelten Gottesvorstel¬ lung?! So ist durchaus verständlich, daß die Luft als eine Gottheit erschien. — Dazu kam aber noch ein anderes Moment. Jenes „Seele" und „Luft" bezeichnende Sanscritwort akasa bedeutet eigentlich: der Ellende, d. h. der sich rastlos bewegende Hauch. Auch diese Jdeenverbindung ist eine uralte und allgemeine. Wo wir Leben erkennen, da erkennen wir auch Bewegung; wo Bewegung ist, da vermuthete deshalb der natürliche Mensch sogleich auch Leben, ja er setzte es mit Bestimmtheit voraus. Nun gibt es aber nichts Beweglicheres in der Luft, die, in so unendlicher Mannigfaltigkeit vom holden warmen Hauch einer liebeflüsternden Menschenlippe bis zu der entsetzlichsten Erschütterung jäher Donnerschläge, vom lauen Hyazinthen-umsäuselnden Früh- lingszephyr bis zum fürchterlich brausenden Herbstorkan jedesmal eine andere und doch immer und immer wieder dieselbe ist. Also auch nach dieser Seite der Bewegung hin stellt sich die Luft recht eigentlich als die vollkommenste Erscheinungsart des Lebens — und der Gott¬ heit dar. Denn abhängig von ihrem Wehen und Wesen treten dem Menschen die ihn zu allernächst berührenden Naturerscheinungen entgegen. Es ist der Wind, welcher die Schaaren regenspendender segnender Wolken zu uns her treibt, der Wind, welcher die lastende, trübe Nebeldecke zerreißt, so daß das himmelsblaue Auge wieder lacht; der Wind ist's, der mit unheimlicher Schnelle des Gewitters dunkle Wolkenburg am Himmel baut; es ist der Sturm, der in nächtlichem Wüthen zur Tag. und Nachtgleiche über die Erde braust und den Lenz emporführt oder den Sommer zu Grabe trägt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/173>, abgerufen am 26.06.2024.