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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Kernigen liegt ein Hauptgrund des zähen Festhaltens des elsässischen Landes
am deutschen Wesen. Die deutsche Art des Elsaß fand kräftigen Schutz an
den deutschen Kaisern und an einem frisch herausstrebenden, bedächtigen und
behäbigen Städtewesen. In erster Linie stand in dieser Richtung Straßburg,
eines der ältesten Gemeinwesen des deutschen Reichs. Wie in den nieder¬
ländischen und anderen deutschen Gemeinden entwickelt sich auch hier der
Kampf zwischen Bürgern und Rittern, Bürgern und Bischof -- daneben
aber auch eine ungewöhnlich reiche Geistesarbeit. In dieser Hinsicht ist
das Elsaß die offene Pforte, durch welche fremde Bildung nach Deutschland
eindrang.

Und dort eben regte sich frühzeitig hohes literarisches Streben. Der
Mönch Otfried hat schon vor tausend Jahren in Weißenburg sein Evan¬
gelium gedichtet, jenes ehrwürdige Denkmal des Ernstes, mit dem die Deut¬
schen sich das Evangelium anzueignen strebten -- und tiefen deutschen Gemüths!
Vor Allem aber hat das Elsaß als größten Dichter seiner Zeit Gottfried
von Straßburg hervorgebracht! Wird sein Name genannt, so denken
wir an sein Liebesepos vom Tristan und Jsolt, von dem unser Buch mit
Recht sagt: "alles was von zarten Stimmungen und Gefühlen in der Zeit
vorhanden war, was von den verschlungensten Wegen und Irrwegen der
Empfindung in der tiefsten Brust verschlossen lag, das hat Gottfried wie in
einen Strauß zusammengebunden. Sein Gedicht ist gleichsam ein Codex
des männlichen und weiblichen Herzens. Und die ergreifende Tragik seiner
Erzählung ist die Frucht jener auflösenden Seelenweichheit, in der jede feste
Lebensführung dem Menschen entgleitet. Der Tristan ist die Tragödie der
Schwäche, die aus der unbedingten Herrschaft des Gefühls entspringt." Aber
bei alledem hat die reichere Bildung Gottfrieds Geist befreit von manchen
Fesseln, in denen die mittelalterlichen Menschen seufzten .... Und "das
literarische Symptom der wachsenden Kraft, des wachsenden Muthes, der
wachsenden Sicherheit und Kühnheit der emporkommenden Bürgerschaft von
Straßburg -- ist Gottfried's Roman".

Allbekannt sind die mittelalterlichen Parteikämpfe in den Städten; auch
Straßburg blieb nicht von ihnen verschont; doch sowohl die Schilderung der¬
selben, wie die hochinteressante Charakteristik des damaligen Pauperismus
mit seinen Judenverfolgungen würde hier zu weit führen. Dagegen sollen
die 'bedeutenden Erfolge, die das Straßburger Bürgerthum in der Geschicht¬
schreibung und im religiösen Leben errungen, nicht verschwiegen werden. An
große Ereignisse knüpft sich auch hier die Geschichtschreibung -- an den Sieg
von 1262/ den die Bürger über ihren Bischof erfochten, und die Erhebung
ihres Landgrafen Rudolph von Habsburg zum deutschen Kaiser. Vorzugs¬
weise die Dominicaner sind es, die, durch mancherlei Umstände gefördert, sich


Kernigen liegt ein Hauptgrund des zähen Festhaltens des elsässischen Landes
am deutschen Wesen. Die deutsche Art des Elsaß fand kräftigen Schutz an
den deutschen Kaisern und an einem frisch herausstrebenden, bedächtigen und
behäbigen Städtewesen. In erster Linie stand in dieser Richtung Straßburg,
eines der ältesten Gemeinwesen des deutschen Reichs. Wie in den nieder¬
ländischen und anderen deutschen Gemeinden entwickelt sich auch hier der
Kampf zwischen Bürgern und Rittern, Bürgern und Bischof — daneben
aber auch eine ungewöhnlich reiche Geistesarbeit. In dieser Hinsicht ist
das Elsaß die offene Pforte, durch welche fremde Bildung nach Deutschland
eindrang.

Und dort eben regte sich frühzeitig hohes literarisches Streben. Der
Mönch Otfried hat schon vor tausend Jahren in Weißenburg sein Evan¬
gelium gedichtet, jenes ehrwürdige Denkmal des Ernstes, mit dem die Deut¬
schen sich das Evangelium anzueignen strebten — und tiefen deutschen Gemüths!
Vor Allem aber hat das Elsaß als größten Dichter seiner Zeit Gottfried
von Straßburg hervorgebracht! Wird sein Name genannt, so denken
wir an sein Liebesepos vom Tristan und Jsolt, von dem unser Buch mit
Recht sagt: „alles was von zarten Stimmungen und Gefühlen in der Zeit
vorhanden war, was von den verschlungensten Wegen und Irrwegen der
Empfindung in der tiefsten Brust verschlossen lag, das hat Gottfried wie in
einen Strauß zusammengebunden. Sein Gedicht ist gleichsam ein Codex
des männlichen und weiblichen Herzens. Und die ergreifende Tragik seiner
Erzählung ist die Frucht jener auflösenden Seelenweichheit, in der jede feste
Lebensführung dem Menschen entgleitet. Der Tristan ist die Tragödie der
Schwäche, die aus der unbedingten Herrschaft des Gefühls entspringt." Aber
bei alledem hat die reichere Bildung Gottfrieds Geist befreit von manchen
Fesseln, in denen die mittelalterlichen Menschen seufzten .... Und „das
literarische Symptom der wachsenden Kraft, des wachsenden Muthes, der
wachsenden Sicherheit und Kühnheit der emporkommenden Bürgerschaft von
Straßburg — ist Gottfried's Roman".

Allbekannt sind die mittelalterlichen Parteikämpfe in den Städten; auch
Straßburg blieb nicht von ihnen verschont; doch sowohl die Schilderung der¬
selben, wie die hochinteressante Charakteristik des damaligen Pauperismus
mit seinen Judenverfolgungen würde hier zu weit führen. Dagegen sollen
die 'bedeutenden Erfolge, die das Straßburger Bürgerthum in der Geschicht¬
schreibung und im religiösen Leben errungen, nicht verschwiegen werden. An
große Ereignisse knüpft sich auch hier die Geschichtschreibung — an den Sieg
von 1262/ den die Bürger über ihren Bischof erfochten, und die Erhebung
ihres Landgrafen Rudolph von Habsburg zum deutschen Kaiser. Vorzugs¬
weise die Dominicaner sind es, die, durch mancherlei Umstände gefördert, sich


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[0141] Kernigen liegt ein Hauptgrund des zähen Festhaltens des elsässischen Landes am deutschen Wesen. Die deutsche Art des Elsaß fand kräftigen Schutz an den deutschen Kaisern und an einem frisch herausstrebenden, bedächtigen und behäbigen Städtewesen. In erster Linie stand in dieser Richtung Straßburg, eines der ältesten Gemeinwesen des deutschen Reichs. Wie in den nieder¬ ländischen und anderen deutschen Gemeinden entwickelt sich auch hier der Kampf zwischen Bürgern und Rittern, Bürgern und Bischof — daneben aber auch eine ungewöhnlich reiche Geistesarbeit. In dieser Hinsicht ist das Elsaß die offene Pforte, durch welche fremde Bildung nach Deutschland eindrang. Und dort eben regte sich frühzeitig hohes literarisches Streben. Der Mönch Otfried hat schon vor tausend Jahren in Weißenburg sein Evan¬ gelium gedichtet, jenes ehrwürdige Denkmal des Ernstes, mit dem die Deut¬ schen sich das Evangelium anzueignen strebten — und tiefen deutschen Gemüths! Vor Allem aber hat das Elsaß als größten Dichter seiner Zeit Gottfried von Straßburg hervorgebracht! Wird sein Name genannt, so denken wir an sein Liebesepos vom Tristan und Jsolt, von dem unser Buch mit Recht sagt: „alles was von zarten Stimmungen und Gefühlen in der Zeit vorhanden war, was von den verschlungensten Wegen und Irrwegen der Empfindung in der tiefsten Brust verschlossen lag, das hat Gottfried wie in einen Strauß zusammengebunden. Sein Gedicht ist gleichsam ein Codex des männlichen und weiblichen Herzens. Und die ergreifende Tragik seiner Erzählung ist die Frucht jener auflösenden Seelenweichheit, in der jede feste Lebensführung dem Menschen entgleitet. Der Tristan ist die Tragödie der Schwäche, die aus der unbedingten Herrschaft des Gefühls entspringt." Aber bei alledem hat die reichere Bildung Gottfrieds Geist befreit von manchen Fesseln, in denen die mittelalterlichen Menschen seufzten .... Und „das literarische Symptom der wachsenden Kraft, des wachsenden Muthes, der wachsenden Sicherheit und Kühnheit der emporkommenden Bürgerschaft von Straßburg — ist Gottfried's Roman". Allbekannt sind die mittelalterlichen Parteikämpfe in den Städten; auch Straßburg blieb nicht von ihnen verschont; doch sowohl die Schilderung der¬ selben, wie die hochinteressante Charakteristik des damaligen Pauperismus mit seinen Judenverfolgungen würde hier zu weit führen. Dagegen sollen die 'bedeutenden Erfolge, die das Straßburger Bürgerthum in der Geschicht¬ schreibung und im religiösen Leben errungen, nicht verschwiegen werden. An große Ereignisse knüpft sich auch hier die Geschichtschreibung — an den Sieg von 1262/ den die Bürger über ihren Bischof erfochten, und die Erhebung ihres Landgrafen Rudolph von Habsburg zum deutschen Kaiser. Vorzugs¬ weise die Dominicaner sind es, die, durch mancherlei Umstände gefördert, sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/141>, abgerufen am 02.07.2024.