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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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opfern müsse. In demselben Sinne wirkte aufrichtig ein männlicher Brief
Cavour's.

Unter Klagen und Wehgeschrei des Volkes zogen Ende März die italie¬
nischen Truppen aus der Stadt. Kalt und stumm empfing die Bevölkerung
am ersten April die neue französische Garnison. Ein blutiger Zusammenstoß
mit dem Volke entweihte die erste Nacht ihres Aufenthaltes. Das Organ
der französischen Partei nannte sich fortan frohlockend "Messager de Rice",
das Volk verfälschte den Namen in "MensoneglM" (Lügen). An Stelle der
zurückberufenen sardinischen Behörden trat eine provisorische Junta. Ihre
Thätigkeit bestand vornehmlich darin, die Kriecherei vor dem Kaiserreich in
ein System zu bringen, und die "freie Abstimmung" zu organisiren. Zu
diesem Zwecke wurde vor Allem ein Wahlreglement erlassen, das allen ähn¬
lichen Komödien mit Erfolg als Muster empfohlen werden kann. Nach
Art. 2 sollte nur mit Nein und Ja gestimmt werden dürfen, nach Art. 3
sollten die Wahlloeale am Sonntag den 16. und Montag den 16. April
von 9 Uhr Morgens bis 4 Uhr Nachmittags ununterbrochen geöffnet sein.
Nach Art. 4 sollte jeder 21jährige unbescholtene, durch Geburt oder Abstam¬
mung einheimische und mindestens sechs Monate ortsangehörige Bürger stim¬
men dürfen. Vom sechsmonatlichen Aufenthalt wurden diejenigen dispensirt,
die "als Nizzarden notorisch bekannt, nach der Heimath zurückkehren und sich
in die Listen aufnehmen lassen würden". Diese Listen sollten indessen nur
überhaupt drei Tage aufliegen, und über die Listenbildung, über Reclama-
tionen, wie über die "Notorietät" der im gegebenen Fall nothwendigen
menschlichen Eigenschaft, das nizzardische Bürgerrecht zu besitzen, entschied in
erster und letzter Instanz ein und derselbe, von dem bonapartistischen Statt¬
halter ernannte Ausschuß. Derselbe Ausschuß prüfte dann auch die Gültig¬
keit und Anzahl der abgegebenen Stimmen inappellabel, und faßte das Ab-
stimmungsprotocoll ab. Daß das Militär, und zwar auch beurlaubte oder
mit Militärpaß versehene Soldaten, an der Abstimmung theilnehmen dürfe,
verordnete Art. 6 ausdrücklich. Damit man ja jeden einzelnen der Abstim¬
menden persönlich controliren könne, wurden die Abstimmungsbezirke nach
der Zahl der in die Listen aufgenommenen Abstimmungsberechtigten eingetheilt.
Ueberall wo mindestens 300 und höchstens 1000 Berechtigte waren, mußte
ein besonderer Bezirk gebildet werden (Art. 8)! Dazu besetzte am Wahltage
selbst das französische Militär alle Plätze der Stadt und in der Franziscaner-
kirche wurde ein feierliches Hochamt für "imporatorom nostrum Mxoleo-
III." abgehalten.

Das Ergebniß der Abstimmung konnte nicht zweifelhaft sein. In Nizza
selbst stimmten von 7918 Berechtigten 6810 mit Ja, 11 mit Nein, 25 Stim¬
men waren ungültig. In der ganzen Grafschaft stimmten von 30,7l2Be-


opfern müsse. In demselben Sinne wirkte aufrichtig ein männlicher Brief
Cavour's.

Unter Klagen und Wehgeschrei des Volkes zogen Ende März die italie¬
nischen Truppen aus der Stadt. Kalt und stumm empfing die Bevölkerung
am ersten April die neue französische Garnison. Ein blutiger Zusammenstoß
mit dem Volke entweihte die erste Nacht ihres Aufenthaltes. Das Organ
der französischen Partei nannte sich fortan frohlockend „Messager de Rice",
das Volk verfälschte den Namen in „MensoneglM" (Lügen). An Stelle der
zurückberufenen sardinischen Behörden trat eine provisorische Junta. Ihre
Thätigkeit bestand vornehmlich darin, die Kriecherei vor dem Kaiserreich in
ein System zu bringen, und die „freie Abstimmung" zu organisiren. Zu
diesem Zwecke wurde vor Allem ein Wahlreglement erlassen, das allen ähn¬
lichen Komödien mit Erfolg als Muster empfohlen werden kann. Nach
Art. 2 sollte nur mit Nein und Ja gestimmt werden dürfen, nach Art. 3
sollten die Wahlloeale am Sonntag den 16. und Montag den 16. April
von 9 Uhr Morgens bis 4 Uhr Nachmittags ununterbrochen geöffnet sein.
Nach Art. 4 sollte jeder 21jährige unbescholtene, durch Geburt oder Abstam¬
mung einheimische und mindestens sechs Monate ortsangehörige Bürger stim¬
men dürfen. Vom sechsmonatlichen Aufenthalt wurden diejenigen dispensirt,
die „als Nizzarden notorisch bekannt, nach der Heimath zurückkehren und sich
in die Listen aufnehmen lassen würden". Diese Listen sollten indessen nur
überhaupt drei Tage aufliegen, und über die Listenbildung, über Reclama-
tionen, wie über die „Notorietät" der im gegebenen Fall nothwendigen
menschlichen Eigenschaft, das nizzardische Bürgerrecht zu besitzen, entschied in
erster und letzter Instanz ein und derselbe, von dem bonapartistischen Statt¬
halter ernannte Ausschuß. Derselbe Ausschuß prüfte dann auch die Gültig¬
keit und Anzahl der abgegebenen Stimmen inappellabel, und faßte das Ab-
stimmungsprotocoll ab. Daß das Militär, und zwar auch beurlaubte oder
mit Militärpaß versehene Soldaten, an der Abstimmung theilnehmen dürfe,
verordnete Art. 6 ausdrücklich. Damit man ja jeden einzelnen der Abstim¬
menden persönlich controliren könne, wurden die Abstimmungsbezirke nach
der Zahl der in die Listen aufgenommenen Abstimmungsberechtigten eingetheilt.
Ueberall wo mindestens 300 und höchstens 1000 Berechtigte waren, mußte
ein besonderer Bezirk gebildet werden (Art. 8)! Dazu besetzte am Wahltage
selbst das französische Militär alle Plätze der Stadt und in der Franziscaner-
kirche wurde ein feierliches Hochamt für „imporatorom nostrum Mxoleo-
III." abgehalten.

Das Ergebniß der Abstimmung konnte nicht zweifelhaft sein. In Nizza
selbst stimmten von 7918 Berechtigten 6810 mit Ja, 11 mit Nein, 25 Stim¬
men waren ungültig. In der ganzen Grafschaft stimmten von 30,7l2Be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/138>, abgerufen am 30.06.2024.