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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Kammerauflösung mit Sicherheit zu corrigiren ist, sondern beim Norddeutschen
Reichstag selbst. Man machte schmerzlich geltend, daß die Verträge mit
Bayern und Würtemberg wohl anders geartet wären, wenn sie im Juli zu
Berlin geschlossen worden wärm, als sie im November zu Versailles geriethen.
Viele hielten undenkbar, daß aus dem großen Kriege ein Bund hervorgehen
solle, der lockerer wäre, als der norddeutsche bisher gewesen, der den drei
Kronen von Bayern, Sachsen und Würtemberg gleichsam eine besondere Etage
zuwies im deutschen Staatsgebäude. Aber nur vorübergehend walteten Be¬
denken gegen die Annahme der Verträge im Norddeutschen Reichstag. Neben
der äußern Nothwendigkeit nämlich, welche nur die Annahme oder Ablehnung
der Verträge, nicht deren Abänderung, gestattete, wirkten drei Factoren über¬
zeugend und zwingend auf die übergroße Mehrheit, welche bei der Schlu߬
abstimmung dem neuen deutschen Staatsgrundgesetz zustimmte. Einmal näm¬
lich hatte Graf Bismarck diese Verträge geschlossen, wohl der größte Real¬
politiker aller Zeiten, dem niemand vorwerfen konnte, daß er irgendwann
seinem Staat nicht Alles erworben habe, was gerade in der gegebenen Lage
zu haben war. Sodann ließen auch die Erklärungen der Regierungsvertreter
unzweifelhaft, daß man diese Verfassung nur als ein Provisorium betrachte,
welches von Kaiser und Reich, vom gesammten deutschen Reichsrath und
Reichstag endgiltig zu entwickeln sei. Und endlich lehrten den deutschen
Patrioten die Tiraden der geschworenen Feinde unsrer Einheit, wie er stimmen
müsse, wenn er es bisher nicht wußte. Die Ultramontanen riefen ihren Ge¬
sinnungsgenossen das absolute Veto der Annahme über den Main hinüber;
ihnen zur Seite schmähten die vaterlandslosen Demagogen die neue Ver¬
fassung und das Land, das diese entarteten Deutschen geboren hatte. Daß
schließlich auch die Fortschrittspartei mit zwei Ausnahmen gegen die Verfas¬
sung stimmte, war ein reinliches Bekenntniß ihres unbelehrbar doktrinären
Standpunktes.

Weit ab von jener gehobenen Stimmung des Juli war das deutsche
Volk und seine Vertreter, als im ersten Drittel des Monats December das
neue deutsche Verfassungswerk zum Abschluß im norddeutschen Parlament
gekommen war. Ja, den Grenzboten gerade liegt noch näher, an andere
längstverklungene Jubeltage vergleichend zu erinnern, weil damals zuletzt die
Haltung dieses Blattes wechselte. Wie hatte Deutschland einst dem Zug des
Reichsverwesers durch das Land entgegengejubelt von den Bergen Tirols bis
zum blauen Maine. Ueberall Frühlingskränze und Glockenton, Fahnen¬
schmuck und Salutschüsse und Tausende von Männern und Frauen, die sich
an den festlichen Zug des östreichischen Erzherzogs drängten, der doch nur
der Vorbote sein sollte der künstigen Kaiserherrlichkeit Deutschlands.

Diesmal nichts von alledem, was an die Freudentage des alten deutschen


Kammerauflösung mit Sicherheit zu corrigiren ist, sondern beim Norddeutschen
Reichstag selbst. Man machte schmerzlich geltend, daß die Verträge mit
Bayern und Würtemberg wohl anders geartet wären, wenn sie im Juli zu
Berlin geschlossen worden wärm, als sie im November zu Versailles geriethen.
Viele hielten undenkbar, daß aus dem großen Kriege ein Bund hervorgehen
solle, der lockerer wäre, als der norddeutsche bisher gewesen, der den drei
Kronen von Bayern, Sachsen und Würtemberg gleichsam eine besondere Etage
zuwies im deutschen Staatsgebäude. Aber nur vorübergehend walteten Be¬
denken gegen die Annahme der Verträge im Norddeutschen Reichstag. Neben
der äußern Nothwendigkeit nämlich, welche nur die Annahme oder Ablehnung
der Verträge, nicht deren Abänderung, gestattete, wirkten drei Factoren über¬
zeugend und zwingend auf die übergroße Mehrheit, welche bei der Schlu߬
abstimmung dem neuen deutschen Staatsgrundgesetz zustimmte. Einmal näm¬
lich hatte Graf Bismarck diese Verträge geschlossen, wohl der größte Real¬
politiker aller Zeiten, dem niemand vorwerfen konnte, daß er irgendwann
seinem Staat nicht Alles erworben habe, was gerade in der gegebenen Lage
zu haben war. Sodann ließen auch die Erklärungen der Regierungsvertreter
unzweifelhaft, daß man diese Verfassung nur als ein Provisorium betrachte,
welches von Kaiser und Reich, vom gesammten deutschen Reichsrath und
Reichstag endgiltig zu entwickeln sei. Und endlich lehrten den deutschen
Patrioten die Tiraden der geschworenen Feinde unsrer Einheit, wie er stimmen
müsse, wenn er es bisher nicht wußte. Die Ultramontanen riefen ihren Ge¬
sinnungsgenossen das absolute Veto der Annahme über den Main hinüber;
ihnen zur Seite schmähten die vaterlandslosen Demagogen die neue Ver¬
fassung und das Land, das diese entarteten Deutschen geboren hatte. Daß
schließlich auch die Fortschrittspartei mit zwei Ausnahmen gegen die Verfas¬
sung stimmte, war ein reinliches Bekenntniß ihres unbelehrbar doktrinären
Standpunktes.

Weit ab von jener gehobenen Stimmung des Juli war das deutsche
Volk und seine Vertreter, als im ersten Drittel des Monats December das
neue deutsche Verfassungswerk zum Abschluß im norddeutschen Parlament
gekommen war. Ja, den Grenzboten gerade liegt noch näher, an andere
längstverklungene Jubeltage vergleichend zu erinnern, weil damals zuletzt die
Haltung dieses Blattes wechselte. Wie hatte Deutschland einst dem Zug des
Reichsverwesers durch das Land entgegengejubelt von den Bergen Tirols bis
zum blauen Maine. Ueberall Frühlingskränze und Glockenton, Fahnen¬
schmuck und Salutschüsse und Tausende von Männern und Frauen, die sich
an den festlichen Zug des östreichischen Erzherzogs drängten, der doch nur
der Vorbote sein sollte der künstigen Kaiserherrlichkeit Deutschlands.

Diesmal nichts von alledem, was an die Freudentage des alten deutschen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/13>, abgerufen am 22.07.2024.